Cocoon, Band 01
erkläre ich ihnen, und an Eriks verblüffter Miene sehe ich, dass es ihm allmählich dämmert. »Das und die Art, wie ihr küsst, sagen mir, dass ihr Brüder seid.«
Die Enthüllung schlägt wie eine Bombe im Atelier ein, und die Druckwelle erschüttert alle Anwesenden. Irgendwann werde ich Jost erklären, dass ich es tun musste, um Maela in eine Falle zu locken, und mich entschuldigen, doch jetzt ist keine Zeit dafür. Maela versucht erst gar nicht, die Gelassene zu mimen. Sie stürzt auf Erik los, weil er ihr die Wahrheit verheimlicht hat. Angesichts ihrer zierlichen Gestalt wäre normalerweise wohl nicht viel dabei passiert, aber immerhin habe ich mitten im Zimmer einen gähnenden Abgrund erschaffen, auf den die beiden geradewegs zutaumeln. Der bestürzte Wachmann rührt sich nicht, und ich wage einen kurzen Blick zu Loricel. Ihre Miene sagt alles: Sie wird nicht eingreifen.
Mit einem Ruck trete ich in Aktion, stürme auf Jost zu und packe ihn am Arm, während Maela Erik über den Rand der Spalte stößt. Sein Sturz verursacht keinen Laut, obwohl er den Mund aufgerissen hat. Sie selbst schwankt an der Kante, fällt aber nicht. Ich habe bereits zu viele wertvolle Augenblicke verloren, und jede Sekunde zählt. Zum Glück ist Jost von den Prügeln, die er bezogen hat, so benommen, dass er sich nicht wehrt, als ich mich mit ihm über den Rand des Lochs werfe. Mir bleibt noch genug Zeit, um zu erkennen, dass Loricel nach vorn hastet und beginnt, den Spalt zu schließen. Sie ist schnell und wird fertig sein, bevor jemand sie aufhalten kann. Aber sie wird teuer dafür bezahlen. Letztlich hat sie mir meine Entscheidung ermöglicht.
Um uns her funkelt und sprüht goldenes Licht, aber ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass der Riss sich schließt, oder weil wir zu schnell durch die rohe Materie zwischen Arras und der Erde rasen. Jost hat mir schützend die Arme um die Taille gelegt. Falls er Schmerzen hat, dürften diese im Moment seine geringste Sorge sein. Er muss wirklich großes Vertrauen in mich haben, dass er mir nicht die ganze Zeit panisch ins Ohr brüllt. Vielleicht kann er hier aber auch gar nicht sprechen, obwohl wir einander so nahe sind. Im Stürzen greife ich nach einem Faden und zerre uns schneller durch das Gewebe, sodass wir immer weiter zu Erik aufholen, der dennoch außer Reichweite zu bleiben scheint.
Theoretisch könnten wir endlos stürzen, jedoch möchte ich nur ungern den Beweis dafür erbringen. Aber ich kann Erik auch nicht alleine lassen. Er hat den Kopf gedreht und uns entdeckt. Sofort begreift er und wirft sich herum, sodass er sehen kann, wie wir näher kommen. Und dann geschieht etwas Erstaunliches. Vielleicht liegt es daran, dass dieses Gewebe so grob und dickfaserig ist, oder Erik kann genau wie ich die Fäden sehen, jedenfalls streckt er die Hand aus, bis er einen davon zu fassen bekommt. Noch immer stürzt er, doch sein Fall hat sich verlangsamt.
Jost wirft sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich, damit wir schneller fallen, bis er die Hand ausstrecken und die seines Bruders ergreifen kann.
Der Augenblick wäre wirklich, wenn er nicht in einer Leere zwischen den Welten stattfinden würde. Immerhin habe ich – dank Loricel – einen Plan. Nun ja, eher eine Idee, und ich kann nur hoffen, dass sie funktioniert. Nun, da sowohl Jost als auch Erik unter meiner Kontrolle sind, lasse ich den Faden los, und wir gleiten rascher über den Mantel. Wenn wir auf eine Faser treffen, schlägt es Funken, und der Faden franst aus. Den Schaden, den wir anrichten, kann ich nur erahnen. Um ihn zu beheben, brauchen sie eine Stickmeisterin. Vielleicht verschafft das Loricel ein bisschen Zeit, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich ihr damit einen Gefallen tue.
Jost lässt Eriks Handgelenk nicht los, und sein Arm umfasst noch immer meine Taille. Deshalb sind meine Hände frei, und ich stoße sie in das Geflecht und reiße so kräftig wie möglich an den Fäden, vergrabe meine Finger in dem groben Gewebe unter Arras, und dann ertaste ich etwas Kaltes. Nachtluft. Die Fäden der rohen Materie sind dick und eng miteinander verwoben, sodass es anstrengend ist, die Hand hindurchzuschieben, aber ich stelle zufrieden fest, dass ich unseren Sturz abfangen kann.
Natürlich schweben wir immer noch in einer endlosen Leere, deshalb sollte ich mich nicht zu früh freuen. Wir befinden uns außerhalb der Wirklichkeit von Arras und seiner physikalischen Gesetzmäßigkeiten, aber, um ehrlich zu sein, weiß ich
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