Cocoon, Band 01
wieder mit nach Hause nehmen. Ich wollte nicht außen vor sein.«
»Ist ja gut, Amie«, sagte ich und nahm sie in den Arm. »Geh dir das Gesicht waschen, ich sehe, ob ich neue Schokolade auftreiben kann.«
Aus ihren grünen, tränenglänzenden Augen schaute sie zu mir auf. »Aber ich habe schon nachgeschaut. Es ist nur ein ganz kleines Stückchen übrig«, flüsterte sie.
»Mach dir deshalb keine Sorgen«, sagte ich achselzuckend. »Ich kenne ein Geheimnis.«
Amie bedachte mich mit einem skeptischen Blick, aber sie tat, was ich ihr sagte. Als sie im Badezimmer verschwand, kletterte ich auf den rutschigen Holzschrank in unserer Küche und holte das letzte bisschen Schokolade herunter. Ich wollte nicht, dass sie sah, wie ich das Gewebe der Schokolade zu berühren versuchte. Ich war immer noch dabei, die Schokoladenfasern zu dehnen und zu vermehren, als meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam.
»Was machst du auf dem Küchenschrank?«, fragte sie. »Und dreckig bist du auch noch. Hast du … « Sie verstummte, als sie sah, was ich in der Hand hielt.
»Die Schokolade ist für deinen Vater«, sagte sie sanft.
»Es ist alles noch da«, erwiderte ich und zeigte ihr die Stücke. Es waren mindestens doppelt so viele wie zuvor.
»Geh auf dein Zimmer«, befahl sie.
Ich ließ die Schokolade auf dem Schrank liegen und ging. Was Amie gemacht hatte, sagte ich meinen Eltern nicht. Stattdessen ließ ich sie in dem Glauben, dass ich die Schokolade gegessen hätte. Zur Strafe wurde ich auf mein Zimmer geschickt, wo ich wartete, bis meine Eltern später am selben Abend zu mir hereinkamen. Amie hatte wahrscheinlich immer noch zu viel Angst, um mit ihnen zu reden, deswegen blieb sie im Wohnzimmer und sah sich den Stream an.
»Verstehst du, warum das, was du getan hast, falsch war?«, fragte mein Vater, während er sich neben mir auf die Bettkante setzte. Meine Mutter stand noch in der Tür.
Ich nickte, aber ich sah ihn nicht an.
»Und warum war es falsch?«
Ich knirschte mit den Zähnen, bevor ich ihm antwortete. Ich wusste, warum. Ich hatte es jahrelang in der Akademie eingebläut bekommen. »Weil es unfair wäre, wenn wir mehr hätten.«
Ich hörte das Seufzen meiner Mutter und drehte mich zu ihr um, aber sie sah mich nur mit müdem Blick an. Dann blickte sie ins Nachbarzimmer zu Amie.
»Ja, das auch«, sagte er. »Aber, Adelice, es ist auch gefährlich.«
»Zu viel Schokolade zu essen?«, fragte ich verwirrt.
Meine Antwort entlockte ihm ein Lächeln, aber es war meine Mutter, die weitersprach.
»Es ist gefährlich, deine Gabe zu benutzen«, sagte sie. »Versprich uns, dass du das nie wieder tun wirst.«
»Ich verspreche es«, wisperte ich.
»Gut«, sagte sie. »Denn ich schwöre, dass ich dir die Hände abhacken werde, bevor ich zulasse, dass du das noch einmal tust.«
Sogar jetzt, während ich hier an dem alten Brot nage, klingt mir die Drohung noch im Ohr, ebenso wie die Warnung, meine Gabe zu verstecken. Aber was, wenn die Gilde schon darüber Bescheid weiß? Ich darf meine Eltern nicht noch einmal enttäuschen.
Am nächsten Tag kommt endlich wieder jemand. Dieses Mal ist es weder Erik noch Josten, sondern Maela höchstpersönlich. Sie spaziert in einem langen schwarzen Abendkleid in meine Zelle, eine Zigarette in der Hand. Ihre Silhouette hebt sich vor dem Licht im Flur ab. So, stelle ich mir vor, wird der Tod einmal kommen: äußerst schick und rauchend.
»Adelice. Wahrscheinlich findest du, dass diese Unterkunft zu wünschen übrig lässt«, schnurrt sie.
»Ich habe schon schönere gesehen«, antworte ich.
»Vor nur zwei Tagen«, erinnert sie mich, wobei sie an ihrer kupfernen Zigarettenspitze zieht. »Du bist ein besonderer Fall.«
Jost hat gesagt, sie hätten die anderen Mädchen umgebracht. Ich bin besonders, weil ich noch atme.
»Ich dachte, dass du das hier vielleicht sehen möchtest«, sagt sie und zeigt mir eine kleine Digiakte. Sie bewegt den Finger darüber, sodass der Bildschirm aufleuchtet und Nummern und Zahlen darauf erscheinen.
»Das sind die Folgen deiner Aufmüpfigkeit«, säuselt Maela. Anscheinend freut sie sich über ihr kleines Spielzeug. Voller Schrecken wird mir klar, dass sie mir die Zahl der Menschen zeigt, die bei dem Test ums Leben gekommen sind.
»Das hatte nichts mit Aufmüpfigkeit zu tun«, sage ich leise.
»Wenn ich dir sage, dass du einen schwachen Faden entfernen sollst, dann tust du das.« Sie gibt sich jetzt nicht mehr belustigt, sondern zischt mich wütend
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