Cocoon, Band 01
Zeitpunkt eintritt, an dem die Bürger mit ihm rechnen. Die Ausbilderin hat mir erzählt, wie sehr sich die Leute ärgern, wenn sie in einen Sturm geraten, der sich zu langsam oder zu schnell bewegt. Wenn man zu viele Fehler macht, wird man in die Nahrungslieferung versetzt.
Unentwegt wandern die Zeitbänder über den Webstuhl und zehren dabei die hinzugefügten Fäden langsam auf. So schnell und präzise wie möglich ersetze ich sie. Andernfalls würde sich die Gegend, an der ich arbeite, verdunkeln. Einmal, als ich noch klein war, ist es zu einer solchen Verdunkelung gekommen. Meine Eltern haben sich damals mit uns im Keller versteckt, bis sie vorüber war. Eigentlich war es nicht gefährlich, aber mit sieben bekommt man ziemliche Angst, wenn plötzlich der Himmel verschwindet. Ich hatte wochenlang Albträume.
Ich liebe das Gefühl der Wetterstränge zwischen den Fingern, und die Materie mit einem Webstuhl zu bearbeiten ist weniger ermüdend, als wenn man nur die bloßen Hände benutzt. Sonst scheint hier niemand ohne Webstuhl weben zu können, und auch ich bin wirklich froh, dass ich die Maschine verwenden kann. Die Regenwolken schwellen unter meinen Fingern an, während ich sie in den Himmel einfüge, und die Blitze kitzeln mich. Irgendwo im Nordosten leuchtet es am Horizont – so wissen die Leute, die die Wettervorhersage im Stream nicht gesehen haben, dass es bald Regen geben wird. Eigentlich müsste ich meine Arbeit hassen, aber es ist entspannend, sogar befriedigend, Regen zu erschaffen. Der Teppich ist wunderschön – ein glänzendes, bewegtes Netz aus Licht und Farben.
»Adelice.« Meine Ausbilderin winkt mich in eine andere Ecke des Zimmers. Einige Klassenkameradinnen bemerken es, wenden sich aber gleich wieder ihren Aufgaben zu. Wahrscheinlich gehen sie davon aus, dass ich wieder mal Ärger bekomme.
Aber nicht nur die Ausbilderin erwartet mich dort. Pryana ist bei ihr, und sie ist alles andere als froh, mich zu sehen.
»Ich soll euch beide mit diesem Herrn in den Flur schicken«, sagt die Ausbilderin mit gedämpfter Stimme, damit die anderen uns nicht hören.
Pryana wirft mir einen entsetzten Blick zu, und ich weiß, dass wir das Gleiche denken: Gibt es jetzt Ärger, weil wir uns geprügelt haben? Eigentlich war es ja sie, die zugeschlagen hat, während ich einstecken musste, aber darauf kommt es wohl nicht an.
»Ihr bekommt keinen Ärger«, beruhigt uns die Lehrerin. Sie muss die Angst in unseren Gesichtern gesehen haben. »Ihr steigt auf, ab jetzt seid ihr Webjungfern.«
Überraschenderweise fühle ich mich erleichtert – ich bin begierig, mehr über die Vorgänge hier im Konvent zu erfahren – , selbst wenn ich ausgerechnet gemeinsam mit Pryana befördert werde. Trotz Josts unausgesprochener Theorien, warum Maela mich am Leben lässt, schätze ich, dass sowohl sie als auch Pryana es kaum erwarten können, mich versagen zu sehen.
Vor dem Übungszimmer wartet Erik. Heute trägt er einen dunkelblauen Anzug mit eleganten, sorgfältig eingewebten Streifen. Es ist erstaunlich, dass ich nach nur einer Woche Weberfahrung Dinge bemerke, die mir vorher nie aufgefallen wären. Der gute Stoff, der passgenaue Schnitt. Er räuspert sich, und ich blicke hastig zu Boden.
»Ich habe die Ehre, euch beide zur Evaluation zu begleiten. Von dort geht es weiter zu einer Novizinnenwerkstatt, in der ihr euch mit euren Mentorinnen trefft, um alles Weitere zu besprechen.« Sein Tonfall ist kurz angebunden und unpersönlich. Er hat diese Sätze schon öfter gesagt. Wahrscheinlich ist er hier immer dann zuständig, wenn Maela gerade zu beschäftigt ist.
»Pryana, deine persönliche Habe wird in dein neues Zimmer unten im Turm gebracht.«
»Persönliche Habe?«, platzt es aus mir heraus.
Die beiden drehen sich zu mir um. Pryana begreift zuerst, und ein Ausdruck boshafter Belustigung tritt in ihr Gesicht.
»Na klar«, säuselt sie. »Wir konnten Sachen mitbringen, die uns wichtig sind. Kleidungsstücke, Fotos von unseren Familien.«
Bei dem letzten Wort weicht ihre Erheiterung einem schmerzvollen Ausdruck. Ich frage mich, ob jemand im Konvent in Erfahrung gebracht hat, ob ihre Schwester ums Leben gekommen ist – vermutlich schon.
»Wenn man wegläuft, kann man keine persönliche Habe mitnehmen«, fährt sie mit blitzenden Augen fort.
»Vermutlich nicht.« Ich trete näher an Erik heran und weiter von ihr weg.
»Es ist, als hätte man nie existiert.«
»Wenigstens gebe ich nicht der Falschen die Schuld
Weitere Kostenlose Bücher