Cocoon, Band 01
ich.
»Ja, das bist du wirklich«, antwortet er. »Ich wiederhole meinen Rat: Stell dich dumm.«
»Das ist leichter gesagt als getan.«
»Offensichtlich«, sagt er gedehnt. »Aber es ist wichtig, wenn dir etwas am Leben liegt. Derzeit braucht Maela dich anscheinend, aber ewig wird sie dich nicht behalten wollen.«
»Warum?«
»Für ein Weilchen musst du mir noch vertrauen.«
»Sicher, solange deine Beweggründe ebenso unklar und bedrohlich sind wie die aller anderen auch«, murre ich.
»Autsch.« Jost verzieht das Gesicht. »Ich verrate dir vielleicht nicht alles, aber unsere Interessen stimmen überein.«
Er steht auf, und ich streife die Jacke ab und gebe sie ihm. »Danke.«
»Nicht der Rede wert.« Er zieht sie wieder über.
»Nicht für die Jacke.« Ich suche nach Worten. »Für die Gesellschaft.«
»Auch nicht der Rede wert. Nimm meinen Ratschlag ernst, Ad.« Dieses Mal klingt sein Tonfall nicht überheblich. Der vertraute Spitzname, mit dem er mich anredet, schmiegt sich um meine Schultern wie zuvor seine Jacke. Mir wird warm. »Die lassen dich bald raus. Versuch, dir keinen neuen Ärger einzuhandeln.«
Jost lässt mich in der Dunkelheit zurück, und während ich wieder warte, denke ich über seine Worte nach. Er war zu ehrlich zu mir. Entweder weiß er etwas, das ihm schier unendliches Vertrauen zu mir einflößt, oder … Ich denke nicht weiter nach, weil ich nicht wissen will, was er sonst noch für Motive haben könnte.
Seit ich weiß, dass ich in der Zelle nicht beobachtet werde, bin ich entspannter. Ich spiele mit den Fäden der Zeit. Wenn es nur ein kleines bisschen Wärme in diesem Raum gäbe, könnte ich mir mehr davon weben, oder vielleicht sogar Licht.
Das Essen zu meinen Füßen ist vertrocknet und kalt. Ein harter Kanten Brot und dünne Suppe. Gerade genug, um mich am Leben zu erhalten. Ich könnte mir mehr davon weben, aber man kann immer nur bereits Vorhandenes vervielfachen – und mehr von diesem Essen wäre keine sonderliche Verbesserung. Dann fällt mir ein, dass ich meinen Eltern versprochen habe, nie wieder Essen zu vermehren.
Eigentlich habe ich damals nichts Falsches getan. Ich war erst neun und wusste nicht, was ich tat. Wahrscheinlich wollte ich nur helfen. Jeden Monat hat meine Mutter einen kleinen Teil unserer Rationen für Süßigkeiten verwendet. Weit hat das nie gereicht, und dann kam auch noch ein Monat, in dem die Ko-op überhaupt keine Süßigkeiten im Angebot hatte. Mama erzählte uns, dass Zuckerwaren knapp wären, und legte die restliche Schokolade in den höchsten Schrank, um sie für Vaters Geburtstag aufzusparen. Es war nicht so, dass ich die Schokolade nicht hatte aufheben wollen. Ich wollte einfach nur verhindern, dass Amie Ärger bekam.
Seit ich in unserem Hinterhof herausgefunden hatte, dass ich das Gewebe berühren kann, habe ich es erforscht, auch wenn ich es bis dahin nur selten wieder angefasst hatte. Aber als Amie weinend aus der Akademie kam, weil sie etwas von der Schokolade mit in die Schule genommen hatte und erwischt worden war, beschloss ich zu handeln.
Meistens gingen Amie und ich zusammen nach Hause, aber an jenem Tag wurde ich aufgehalten. Ich hatte vor mich hingeträumt und wurde von meiner Lehrerin dafür ausgeschimpft.
»Was wird dein Chef denken, wenn er sieht, wie du Löcher in die Luft starrst, anstatt zu arbeiten?«, fragte sie kalt. Wie immer hielt ich den Blick auf den Boden gerichtet, während sie über mich herzog. Als es endlich vorbei war, brannten Wut und Kränkung in meiner Brust. Und dann hatte Amie noch nicht mal auf mich gewartet.
Als ich zu Hause ankam, richtete meine Wut sich gegen Amie, weil sie mich allein gelassen hatte. Ich war so sauer, dass ich nicht gleich bemerkte, wie ihre Unterlippe bebte. Aber als sie mich sah, heulte sie los, und meine Wut verflog sofort.
»Was ist denn los?«, fragte ich sie leise.
Amie schüttelte den Kopf.
»Du kannst mir alles sagen«, drängte ich sie.
Amie zögerte, aber dann erzählte sie mir, was geschehen war. Nach und nach puzzelte ich die Bruchstücke zusammen, die sie zwischen ihren Schluchzern hervorbrachte: Eine ihrer Freundinnen hatte gesagt, dass heute alle ein Stück Schokolade mit in die Akademie bringen sollten. Es ging darum, wer das größte Stück brachte. Da Amie wusste, dass Mama ihr nichts geben würde, hatte sie sich heimlich etwas von der Schokolade genommen.
»Ich wollte es ja gar nicht essen«, erzählte Amie weiter. »Ich wollte es nur zeigen und dann
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