Code Delta
ihm nach. Er hatte keine Ahnung, wer der Kerl war, doch das war erst einmal nicht wichtig. Dass der Mann davonrannte, sagte King alles, was er über ihn wissen musste: Der Mann hatte etwas ausgefressen, denn nur Leute mit schlechtem Gewissen laufen einfach so davon. Außerdem schien er zu spüren, dass King gefährlich war, jemand, vor dem man sich besser in Acht nahm. Und sein Auftauchen am Grab von Kings Mutter bedeutete, dass er die wahre Identität des Schachteamführers kannte.
Nichts davon war akzeptabel.
Während King die Verfolgung aufnahm, analysierte der Kampfcomputer in seinem Kopf die Situation. Der Mann hatte schwarze Haare, glatt zurückgekämmt und gegelt. Er trug einen Trenchcoat, der nicht viel von seiner Statur erkennen ließ. Glänzende Schuhe. Elegant. Nicht ideal zum Laufen. Er hatte nicht erwartet, verfolgt zu werden.
Warum läuft er dann weg? , fragte sich King.
Als sie eine Lichtung erreichten, die von zwei Reihen von Grabsteinen gesäumt wurde, legte King einen Zwischenspurt ein und halbierte so den Abstand. Der Mann war nicht schnell, und im Näherkommen erkannte King graue Strähnen in seinem Haar. Er muss zwischen fünfzig und sechzig sein , dachte er.
Der Mann folgte einem gepflasterten Weg, der, wie King wusste, um einen kleinen, aber steilen Buckel herumführte. King stürmte geradeaus weiter den Abhang hinauf. Als er oben anlangte, sah er den Mann direkt unter sich. Er sprang, rollte sich bei der Landung ab und bekam zwei Handvoll Trenchcoat zu fassen. Der Stoff rutschte ihm aus den Händen, doch der plötzliche Ruck brachte den Mann zum Stolpern. Er ruderte verzweifelt mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und stürzte bäuchlings ins Gras.
King war nicht in Stimmung für einen Kampf oder eine längere Verfolgungsjagd, daher zog er einfach seine Sig Sauer und spannte den Hahn.
Der Mann musste das Geräusch erkannt haben, denn er richtete sich, ohne sich umzusehen, auf die Knie auf, hob die Hände und bat: »N-nicht schießen!«
King trat mit erhobener Waffe näher, zögerte jedoch, denn irgendetwas an dem Mann kam ihm bekannt vor. Er war ihm schon einmal begegnet, konnte ihn aber nicht einordnen. Die Ablenkung verlangsamte seine Reflexe.
Und der Mann war schneller, als er aussah. Er wirbelte herum, packte Kings Hand mit der Waffe und drückte den Lauf nach oben weg. Mit der freien Hand schlug er zu. Harte Knöchel streiften Kings Nase. Wenn er nicht zurückgezuckt wäre, hätte der Hieb ihm zweifellos das Nasenbein gebrochen.
Der Mann wurde von seinem eigenen, fehlgegangenen Schlag nach vorne gerissen. King setzte zu einem Ellenbogenstoß in den Rücken an. Doch bevor er dazu kam, warf sich der Mann herum und rammte ihm die Schulter in den Bauch, so dass King rückwärtsstolperte.
In der Sekunde, die es dauerte, bis sie beide auf das Pflaster knallten, vervollständigte King seine Einschätzung über die Kampfausbildung des Mannes. Es handelte sich um einen Kneipenschläger. Wuchtige Hiebe und weit ausholende Schwinger, die darauf abzielten, einen einzigen, vernichtenden Treffer zu landen. Alte Schule. Das funktionierte wunderbar gegen Amateure, aber King verstand mehr vom Kämpfen als die allermeisten.
Noch im Rückwärtsfallen ließ er seine Waffe los, packte den Mann mit beiden Händen am Trenchcoat und stemmte ihm die Füße in die Hüften. Mit vollem Gewicht hängte er sich an ihn und kontrollierte ihren Sturz. Als sie aufkamen, rollte King sich rücklings ab und stieß mit beiden Füßen nach oben, so dass der Mann durch die Luft gewirbelt wurde und platt im Gras aufschlug.
Nur mühsam richtete der Mann sich auf, und King nutzte die Zeit, um seine Waffe aufzuheben und sie auf den Rücken des Mannes zu richten.
Dieser hob die Hände und ergab sich. Der Kampf war vorüber.
»Drehen Sie sich um.«
Der Mann wandte sich mit gesenktem Kopf um, dann hob er langsam den Blick und starrte auf die Waffe, die King in Hüfthöhe auf ihn gerichtet hielt. Der Schachteamführer blinzelte, während Wiedererkennen und eine Flut von Erinnerungen und Emotionen über ihm zusammenschlugen. Der Mann, der vor ihm stand, war sein Vater, Peter Sigler.
»Nicht schießen«, sagte der.
King musterte ihn von Kopf bis Fuß. Unter dem Trenchcoat trug er einen abgewetzten Anzug. Er war genauso unrasiert wie King. Sein einstmals schwarzes Haar war inzwischen an den Schläfen grau meliert. Fünfundfünfzig Lebensjahre hatten sein Gesicht gefurcht, aber er wirkte gesund und kräftig. Einen
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