Code Delta
Augenblick lang hatte King das Gefühl, durch einen Zeitspalt auf sein zukünftiges Ich zu blicken. Aber etwas stimmte nicht – die Angst in den Augen seines Vaters.
King ließ die Waffe sinken. »Ich werde doch meinen Dad nicht erschießen.«
Peters Blick glitt ungläubig nach oben. Er hatte King gar nicht richtig angesehen, sondern nur auf die Waffe gestarrt. »Jack?«
Seine Hände begannen zu zittern. Er legte sie ineinander und presste sie zusammen. »Ich wusste nicht, dass du es bist. Ich dachte, es wäre …«
»Wer?«, fragte King.
»Ich weiß nicht, jemand von der Kirche. Ein Gärtner. Ich dachte, der Friedhof wäre geschlossen.«
King wollte fragen, warum sein Vater denn vor dem Gärtner davonrennen sollte, als er dachte: Natürlich ist er weggelaufen, das ist schließlich das, was er am besten kann. Das erklärte allerdings nicht, warum Peter gleich mit Fäusten auf ihn losgegangen war.
Er kehrte seinem Vater den Rücken zu und blickte zum Grab seiner Mutter zurück, bat sie stumm um Anleitung und die Willenskraft, Peter Sigler nicht zu verprügeln. »Du bist nicht gekommen, um mich zu sehen«, sagte er. Er schob die Waffe ins Halfter und wollte sich an seinem Vater vorbeischieben.
»Na ja, aber jetzt sehe ich dich doch, oder?«
Einen Moment lang wollte King sich hinter seine Wut zurückziehen, aber dann bröckelte seine Entschlossenheit. Das unverhoffte Wiedersehen mit seinem verschollenen Vater so kurz nach dem Tod seiner Mutter machte ihm zu schaffen, und er spürte, dass er den Schmerz nicht allein tragen wollte. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er seinem Vater, ihm zu folgen. »Hast du Hunger?«
Er machte sich auf den Weg, ohne zu wissen, ob Peter Sigler ihm folgen würde. Einen Augenblick später hörte er das Scharren von Schuhen auf dem Pflaster. Sein alter Herr hatte anscheinend genug vom Weglaufen. Jedenfalls fürs Erste.
5 Fort Bragg – Decon
»Was hat sie hier zu suchen?«, fragte Keasling mit einem Blick auf Fiona, die es sich in dem normalerweise für King reservierten Sessel gemütlich gemacht hatte.
»Es geht doch um meine Großmutter«, hielt das Mädchen dem untersetzten, schroffen Brigadegeneral entgegen. »Und darum, wer sie umgebracht hat.«
Queen räusperte sich hastig. »Sir, jeder, der mit der Aufsicht über Fiona und ihrem Schutz betraut ist, befindet sich entweder in diesem Raum oder ist nicht verfügbar.«
Keasling blickte sich um. An dem langen Konferenztisch saßen Fiona, Queen, Knight, Bishop, Rook und Lewis Aleman, der ehemalige Außenagent des Teams, der inzwischen zum Computergenie und zur wandelnden Wikipedia aufgestiegen war.
Der Raum, der Decon oder Limbo – die Vorhölle – genannt wurde, je nachdem, mit wem man gerade sprach, war nichts Besonderes: ein simples Rechteck mit einer verglasten Seite zum Hangar hin, in dem die Crescent stand, der Stealth-Überschalltransporter des Teams. Sehr ausgefeilt war allerdings die Technologie, die sich im Tisch und in den Wänden verbarg. Versteckte Computer und ein riesiger Bildschirm gestatteten es dem Team, die riskantesten, technisch aufwendigsten und erfolgreichsten Delta-Einsätze zu planen, die es je gegeben hatte.
»Das gefällt mir nicht«, wiederholte Keasling. »Das Kind sollte nicht dabei sein.«
»Das geht schon in Ordnung, General.« Die Stimme, die jedem im Raum und den meisten Amerikanern bekannt war, kam von dem großen Bildschirm an der Stirnwand des Raums. Für das Team hieß der Mann einfach Deep Blue, ihr Agentenführer, benannt nach dem berühmten IBM -Computer, der den amtierenden Schachweltmeister geschlagen hatte. Für alle anderen war er der Präsident der Vereinigten Staaten. Sein Haar wurde langsam schütter, er hatte ein charmantes Lächeln und freundliche graue Augen. Lediglich ein paar kleine Narben an Wangen und Augenbrauen erinnerten an seine Jahre als Army Ranger und passten nicht ganz zu seinem staatsmännischen Image.
Keasling wandte sich zu dem Bildschirm um, der Deep Blue vor einem Ausschnitt des Oval Office zeigte. Er nickte. »Mr. President.«
»Sie hat ein Anrecht auf ein paar Antworten«, meldete sich Knight. »Es ist jetzt fast ein Jahr her.«
»Ich bin ganz Ihrer Ansicht«, meinte Deep Blue, »aber ich fürchte, es gibt lediglich ein paar offene Fragen mehr. Und vielleicht eine Spur.« Er sah Keasling an. »Zeigen Sie es ihnen.«
Keasling schlug einen auf dem Tisch liegenden Aktenordner auf und entnahm ihm einen Umschlag. Er war an Jack Sigler adressiert. »Wir
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