Code Freebird (German Edition)
einen Arzt verständigen solle. Doch Candice war Schläge gewohnt, in allen Variationen – harte, spitze, flache, dumpfe und gemeine. Ein Schlag würde sie nicht töten. Ein Mensch stirbt langsam. Darin war sie Profi.
Sie raffte sich hoch, bedankte sich für die Hilfe und bat, allein gelassen zu werden. Sie sei okay. Thanks, no problem.
Candice ging zum Handwaschbecken, schaute in den Spiegel. Der Dreckskerl hatte sie knapp über dem linken Auge erwischt. Es pochte gegen den Knochen. Morgen hätte sie ein blaues Auge. Verdammter Penner. Warum musste er ausgerechnet sie aussuchen? Sie hatte gerade mal zwanzig Dollar bei sich. Sie wollte ein Buch kaufen, für ihren Sohn, der heute seinen zweiten Geburtstag feierte. Und jetzt das. Fucking Krauts.
Als sie sich zum Waschbecken hinunterbeugte, spürte sie etwas Hartes an ihren Rippen. Sie öffnete Uniform und Bluse. Ein breiter Gürtel saß unterhalb ihrer Brüste. Er hatte vier Taschen, die mit jeweils einem flachen Beutel gefüllt waren. Fünf, sechs, sieben Drähte gingen davon ab. Alle in der gleichen grauen Farbe. Kein roter, kein blauer und auch kein gelber. Sie würde nicht die Qual der Wahl haben. Die Drähte endeten in einem Handy, das am Bund ihres Rockes befestigt war. Sie wusste innerhalb einer Sekunde, worum es sich hier handelte.
Ruhig bleiben, beschwor sie sich. Was tun?
Vor allem nicht bewegen. Wer wusste schon, ob der Sprengstoff nicht bewegungssensitiv war. Sie brauchte einen Spezialisten, hier, in dieser gottverdammten Toilette, in einem Land, wo man selbst auf dem Scheißhaus nicht mehr sicher war. Wo war ihre Handtasche mit dem Handy? Sie schaute sich vorsichtig um. Die Tür zur Kabine stand offen. Nichts. Der Angreifer hatte sie von der Außenwelt abgeschnitten. Sie war gefangen.
Warten, sagte sie sich. Sie würde hier an Ort und Stelle ausharren, bis jemand kam, den sie um Hilfe bitten konnte.
Die Minuten dehnten sich unendlich. Doch es kam nur die Angst. Das Gefühl war ihr vertraut. Sie kannte alle Formen. Die anfänglich auflehnende, dann abwehrende bis hin zur stillen, lähmenden Angst. Dazwischen lag die Panik, Flucht gegen jede Vernunft. Sie kannte die Symptome. Das Zittern, der gehetzte Blick, das unkontrollierbare Schwitzen. Doch das waren nur die äußeren Anzeichen. Wie es in einem Menschen mit Panik aussah, würde sie nun zum ersten Mal selbst erleben. Ihr Herz pumpte schneller, das Atmen fiel schwer. Der Druck auf ihre Brust nahm zu. Sie zuckte, als der erste Schub sie überfiel. Lauf weg!, hallte es in ihrem Inneren. Lauf!
Aber noch war sie bei klarem Verstand. Nein, befahl er. Beweg dich nicht einen Millimeter. Atme ruhig und warte ab. Du wirst gerettet.
Mit Hohn meldete sich der nächste Schub. Bleib und stirb – oder lauf und lebe. Sie zitterte am ganzen Körper, Schweiß rann aus sämtlichen Poren, die Brust war wie zugeschnürt. Eine Tonne schien auf ihr zu lasten. Sie glaubte, allmählich die Kontrolle über sich zu verlieren. Beine und Hände gehörten ihr nicht mehr.
Renn weg! Jetzt, bevor es zu spät ist.
Nein, warte ab. Ruhig. Atme.
Ich will nicht …
Sie knickte weg, knallte mit dem Ellbogen auf das Waschbecken, landete auf dem Boden.
Kein Schmerz, nur Angst. Wovor?
Zu sterben.
Nie hätte sie gedacht, dass sie so etwas selbst erleben würde. Ja, sie kannte die Anzeichen, wenn Menschen in Angst verfielen. Aber sie sah sie immer nur bei anderen, nie bei ihr selbst. Angst war die Macht, die sie auf andere ausübte. Sie war stets die Herrin gewesen.
Das Handy an ihrem Rock klingelte. Bei dem Geräusch glaubte sie, augenblicklich das Bewusstsein zu verlieren. War das der Augenblick des Todes? Hörte er sich so an? Das Herz raste, sie keuchte, der Raum schien sich zu drehen. Sie schloss die Augen und erwartete das Unvermeidliche.
Doch nichts geschah. Das Klingeln hörte nicht auf, und sie war noch immer am Leben. Sie streifte die Bluse zur Seite, sah, dass noch alle Drähte an ihrer Stelle waren.
Sollte sie, oder sollte sie nicht?
Nur mit Mühe griffen ihre nassen, zitternden Finger das Handy.
«Ja?», hauchte sie in den Hörer.
«Furcht, ein bemerkenswertes Gefühl, nicht wahr?», lautete die Antwort.
«Wer sind Sie?»
«Mein Name ist nicht wichtig. Sie kennen mich nicht.»
«Was wollen Sie von mir? Was habe ich Ihnen getan?»
«Nichts.»
«Wollen Sie Geld? Ich habe …»
«Kein Interesse.»
«Was dann? Sagen Sie es mir.»
«Spielen wir ein Spiel.»
«Wie bitte?»
«Ich sage Ihnen, wie Sie die
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