Codename Hélène
Nancy Wake ist in Sicherheit.
Tagelang ist sie nicht ansprechbar. Sie leidet. Zieht sich zurück in ihren Bus und will niemanden sehen. Aufmunternde oder gar lobende Bemerkungen der Männer wehrt sie ab. Erst nach dem Krieg erzählte sie Vera Atkins davon, und von der wiederum erfuhr es die britische Autorin Beryl E. Escott, die in ihrem Buch The Heroines of SOE lediglich mit einem kurzen Satz, ohne ein Wort über den genauen Hergang zu verlieren, auf die Seelenlage von Agentin Hélène eingeht, die tagelang erschüttert gewesen sei: »When Nancy Wake did kill a German sentry to save her life, it upset her for days afterwards.«
Die Szene vor dem Tor wird von Nancy Wake in ihren Memoiren niemals erwähnt. Es ist zwar in Interviews in ihren späteren Lebensjahren immer wieder die Rede davon, dass sie es bedaure, nicht noch mehr Deutsche getötet zu haben – und in bestimmten englischen Zeitungen dürfte sie dabei der Mehrheit von deren Lesern aus dem Herzen gesprochen haben. Wobei alle vergaßen, dass so viele junge Deutsche, die im Krieg ihr Leben ließen, nicht die üblichen Mörder in Uniform gewesen sind, sondern in den Krieg befohlen wurden und keine Wahl hatten außer der, zu gehorchen. Nachprüfen lässt sich die nächtliche Aktion am Tor nicht. Dass es keine konkreten Vergeltungsmaßnahmen gab, ist allerdings auch kein Gegenbeweis. Die Deutschen hatten zu der Zeit, als es geschah, keine Zeit mehr für Racheaktionen, sie befanden sich im Aufbruch zum – noch – geordneten Rückzug.
In den Sommermonaten Juni, Juli und August liefern sie sich mit den Alliierten zwar noch erbitterte Kämpfe, doch deren Vormarsch, unterstützt von massiven Luftangriffen, können sie nicht mehr aufhalten. Das missglückte Attentat auf Adolf Hitler am 20 . Juli, die tödlichen Konsequenzen für die Verschwörer sind für Briten und Amerikaner zwar kein Geheimnis. Sie hören längst alles mit, was beim Feind passiert. Aber es hat auf ihre Strategie keine Auswirkungen. Sie wiegen sich im Gegenteil im Irrglauben, es sei trotz des gescheiterten Anschlags auf den »Führer« allenfalls eine Frage von Wochen oder wenigen Monaten, bis Deutschland kapitulieren werde. Doch bis der Süden Frankreichs erobert ist, bis sich die über die Bretagne und die Normandie vorstoßenden Truppen dann mit den in der Provence gelandeten Alliierten verbünden zum Marsch auf Paris, wird es dauern.
Marseille ist noch deutsch. Die Fridolins haben noch immer das ehemalige Hôtel du Louvre et de la Paix besetzt und kontrollieren die Stadt. Ihren Ehemann Henri hat Nancy Fiocca zuletzt vor ihrer Flucht über die Pyrenäen gesehen. Seitdem nichts von ihm gehört. Und nie herauszubekommen versucht, wie es ihm geht, ob er noch lebt? Nie ihn durch geheime Kanäle wissen lassen, immerhin fast anderthalb Jahre nach ihrer Trennung, dass es sie noch gibt? Dass sie in London nichts von seinem Schicksal erfahren hat, ist als den Zeiten geschuldet verständlich. Doch jetzt hier in Frankreich, wo sie ja vor bald drei Monaten gelandet ist, hätte es doch trotz schwierig herzustellender Kommunikation eine Gelegenheit geben müssen, in Marseille nachzuforschen. Über den Barmann des »Basso« oder den Besitzer des »Verduns«. Oder nicht?
Eine unverfängliche Postkarte zu schicken, so wie sie es damals gemacht hatte, als sie in Spanien angekommen war und ihr Mann dadurch erfuhr, dass sie es geschafft hatte, war schlicht unmöglich. Die Post hatte ihren Betrieb mehr oder weniger eingestellt. Leitungen waren zerstört, viele Beamte vom Arbeitsplatz in die Résistance abgetaucht. Zweitens galten die strengen Befehle von Special Operations Executive für alle Agenten, auch für die Agentin Hélène, wonach beim Einsatz alle persönlichen Kontakte verboten waren, weil die Gestapo Angehörige oder Freunde überwachte. Gemeint waren Beziehungen aus dem früheren privaten Leben, nicht aktuelle. Denn selbstverständlich wurden in den Zeiten der Not und der Gefahr auch neue Lieben geboren, und manche hielten nicht nur für eine Nacht den Kämpfenden ihre Todesangst wärmend vom Leib, sondern nach dem Krieg sogar ein Leben lang.
Es scheint so, als gehört Henri Fiocca zu ihrer Vergangenheit und als habe der in ihrer Gegenwart keinen Platz mehr, bis für beide wieder eine gemeinsame Zukunft beginnt. Selbst diese nachgereichte Interpretation ist nichts weiter als eine unerlaubte Spekulation und beruht allein auf der Feststellung, dass er bis zu dem Moment, in dem sie tatsächlich von
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