Codename Hélène
-Panzerdivision »Das Reich«, eigentlich unterwegs zur Küste, trat an zum Gegenangriff und holte Tulle zurück. Auf Befehl ihres Kommandeurs, SS -Brigadeführers Heinz Lammerding, griffen sich die Schwarzen Teufel hundert Bürger der Stadt, unschuldige Zivilisten. Für jeden bei den jüngsten Kämpfen gefallenen deutschen Soldaten sollten zehn Franzosen aufgehängt werden und zur Abschreckung, um die zu entmutigen, die sich jetzt während der deutschen Halbgötterdämmerung dem Widerstand anschließen wollten, tagelang so hängen bleiben. Zur Begründung gab der Kommandeur an, kommunistische Partisanen hätten verwundete deutsche Soldaten, die sich bereits ergeben hatten, »bestialisch ermordet«, und das müsse gnadenlos vergolten werden. Eine Lüge. Die Verwundeten waren im Gegenteil von französischen Ärzten des Hospitals versorgt und den Deutschen nach deren Einmarsch zur weiteren Behandlung übergeben worden.
Als zusätzliche Sühne für die »Beleidigung der deutschen Fahne«, die von den Aufständischen in den wenigen Tagen ihres zwischenzeitlichen Sieges von den Masten gerissen und durch die Trikolore ersetzt worden war, mussten die Einwohner den öffentlichen Hinrichtungen ihrer Mitbürger beiwohnen. Die Männer wurden aufgehängt an Balkongittern, an Laternen, an Bäumen, an Telefonmasten. Mütter und Väter erlebten, wie ihre Söhne starben. Aus der Bar »Tivoli« dröhnten deutsche Schlager von einem Grammofon. Die Henker prosteten sich zu und knipsten sich gegenseitig für ihre Lieben in der Heimat. Einer nahm sich sogar einen Zeichenblock und seine Stifte, denn er war offenbar ein Künstler, und hielt die Szene fest. Neunundneunzig Franzosen sterben an diesem 9 . Juni, hundert weitere Unschuldige werden in ein deutsches Konzentrationslager deportiert und umgebracht.
General Lammerding und seine SS -Division sind auch verantwortlich für eine andere Gräueltat: das Massaker von Oradour-sur-Glane einen Tag danach, am 10 . Juni. Unter dem Vorwand, Widerstandskämpfer vernichten zu müssen, die sich angeblich in Oradour verschanzt hätten und verantwortlich gewesen seien für den Überfall auf einen Offizier der Division, ließ Lammerding den Ort besetzen. Dann ordnete er systematische Hinrichtungen an. Die männlichen Einwohner wurden in Scheunen getrieben und dort erschossen. Alle. Der älteste neunzig Jahre alt. Frauen und Kinder wurden in die Kirche gejagt. Alle. Das jüngste Kind fünf Tage alt.
Um zu schildern, was Unsägliches geschah, reichen heute nachgetragene Worte der Fassungslosigkeit nicht aus. Die Worte wären geprägt von ohnmächtiger Lust auf Rache. Was absurd ist rund siebzig Jahre später. Oder man ließe sich trösten von der kindlichen Vorstellung, dass es, bitte, lieber Gott, doch eine Hölle gebe, in der die Mörder bis in alle Ewigkeit schmoren müssten. Das scheint – wer’s glaubt, wird jedoch selig – bei allem, was man weiß, doch eher fraglich zu sein. Bleiben die Worte einer der fünf Überlebenden des Ortes, die Aussage von Margaret Rouffanche, die sie nach dem Krieg dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gab:
»Deutsche Soldaten, vielleicht zwanzig Jahre alt, öffneten die Tür und stellten eine Kiste vor den Altar. Einige Augenblicke später ging von der Kiste eine kleine Explosion aus. Schwarzer, beißender Rauch kam heraus. Wir bekamen Erstickungsanfälle. Dann erschienen Deutsche in der Tür, feuerten mit Maschinengewehren in die Menge und zündeten die Kirche an. Ich stieg auf einen Schemel und sprang aus einem der Fenster hinter dem Altar. Hinter mir erschien Madame Joyeux und wollte mir ihr sieben Monate altes Baby reichen. Doch das Kleine schrie. Deutsche kamen angelaufen. Sie schossen. Das Baby und Madame Joyeux waren sofort tot.«
Madame Rouffanche, getroffen von fünf Kugeln, wird von den Mördern für tot gehalten. Sie überlebt. Ihre beiden Töchter, ihr Enkel verbrennen in der Kirche. Der für die Massaker sowohl in Tulle als auch in Oradour verantwortliche SS -Führer Lammerding wird zwar nach dem Krieg in Frankreich in Abwesenheit zum Tode verurteilt, von der Bundesrepublik aber nicht ausgeliefert und zudem dort vor keinem ordentlichen Gericht angeklagt. Unbelastet von Schuldgefühlen oder moralischen Skrupeln – aber damit war er unter den davongekommenen Nazis im dann demokratischen Deutschland ja nicht einzigartig –, zog er im Gegenteil sogar selbst vor Gericht und klagte gegen veröffentlichte Tatsachenberichte, die er als Rufschädigung, als
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