Codename Hélène
seinem Schicksal erfahren wird, weder in ihren Erinnerungen mit auch nur einem Satz erwähnt wird. Noch ist in ihren Schilderungen vom Leben als Agentin ein Hauch von wehmütiger Sehnsucht nach ihm zu spüren, wohingegen die beeindruckenden Eigenheiten und Eigenschaften Henri Tardivats von Hélène in leuchtenden Farben geschildert werden. War sie vielleicht so in ihrer Rolle als Agentin aufgegangen, dass sie die Identität von Nancy Fiocca bis auf Weiteres von der Bühne in die Garderobe geschickt und die fest verschlossen hatte?
Beim nächsten Auftritt ist wieder Kaltblütigkeit erforderlich und die ihre gefragt. Die Bühne ist das Hauptquartier der Gestapo in Montluçon im Hôtel de l’Univers. Durch den Besitzer des Restaurants im Erdgeschoss, der zur Résistance gehört, wissen Farmer und Gaspard um die Gewohnheiten der Deutschen. Zum Beispiel, wann sie ihr Mittagessen einzunehmen pflegen. Darauf beruht der Plan für die Attacke. Heute wollen sie ihnen als Nachtisch eine blutige Überraschung servieren. Das Kommando übernimmt Henri Tardivat. Vergeblich hatte er versucht, Hélène davon zu überzeugen, im Quartier zu bleiben und sich um die Verteilung von Waffen oder Material zu kümmern und nebenbei auf Denis zu achten. Sie ließ sich nicht überreden.
Es soll die Vergeltung für eine Vergeltung werden. Die Vorgeschichte: Im Tunnel zwischen Montluçon und Moulins hatte die Résistance in einem sorgsam geplanten Sabotageakt mithilfe von Eisenbahnbeamten zwei Züge ineinanderkrachen lassen. Womit die Strecke für Truppentransporte unbenutzbar gemacht worden war. Niemand wurde verletzt. Personal und Passagiere konnten beide Züge vor dem Crash verlassen, die Lokführer waren rechtzeitig abgesprungen. Die Deutschen rächten sich trotzdem auf ihre Art, nahmen 42 Männer aus Montluçon fest, trieben sie zusammen, luden sie auf Lastwagen und erschossen sie in Wassergräben draußen vor der Stadt. Sie verboten sogar, die Toten zu bergen und zu bestatten. Den Protest des Bürgermeisters beantwortete der deutsche Stadtkommandant kühl, es sei keine Aktion der Wehrmacht gewesen, die Hinrichtung dieser »Terroristen« habe allein in der Verantwortung der Gestapo gelegen.
Dafür wollten sich die Maquisards jetzt rächen.
Tardivat bestand darauf, dass Nancy Wakes Bodyguards, sechs Veteranen des Spanischen Bürgerkriegs, kampferfahrene Mitglieder des Maquis, sie begleiteten. Die hatte er zu ihrem persönlichen Schutz abgestellt, seit ein Milizionär, wahrscheinlich gelockt durch das ausgelobte Kopfgeld, Nancy Wake auf der Rückfahrt nach einem Treffen mit einem SOE -Kurier in Vichy versucht hatte zu ermorden. Der Mann überlebte seinen Anschlag nicht. Er war betrunken und übersah, dass die Handgranate, die er auf den Wagen werfen wollte, in dem sein Opfer saß, bereits entsichert war. Er flog in die Luft.
Für den Überfall in Montluçon benutzen sie zwei erbeutete Lastwagen, die sie am hinteren Eingang des Hotels parken. Weil es deutsche Fabrikate sind, kümmern sich die Torwachen nicht weiter darum. Auch der schwarze Citroën passt in ihr Weltbild. Er hat keinen der üblichen Gazogène-Aufbauten am Heck. Wird also mit Benzin betrieben. An das aber kamen nur noch Deutsche heran. Plötzlich biegen um die Hausecke Dutzende von Maquisards, Nancy mitten unter ihnen, bewaffnet mit Maschinenpistolen, Handgranaten in den Gürteln, schießen sich den Zugang frei, stürmen die Treppen hinauf. Nancy Wake entsichert ihre Handgranate, öffnet die Tür zum Raum, in dem die Deutschen tafeln, wirft die Granate rein, schließt die Tür, rennt sofort wieder die Stufen hinunter, verlässt das Haus, dessen obere Stockwerke von mehreren Explosionen erschüttert werden, rast zum Citroën, dessen Motor bereits läuft, und fährt davon. Wenige Minuten danach flüchten die anderen Angreifer aus dem Gebäude. Die Lastwagen fahren los. Der Wirt beschwört Anwohner aus der Nachbarschaft, sofort nach Hause zurückzukehren, weil es sich keinesfalls schon, wie die lauthals gehofft hatten, um die Ankunft der Befreier gehandelt habe, sondern um ein Attentat.
Schrecklich dürfte die Vergeltung der Besatzer für den Angriff ausfallen. Davon war auch John Farmer ausgegangen und hatte sich deshalb parallel zum Überfall auf das Gestapo-Quartier, wo für viele Deutsche, wie Nancy Wake lakonisch anmerkte, die letzte Mahlzeit stattgefunden habe, eine Attacke auf die Garnison der Wehrmacht vorgenommen. Nach Informationen örtlicher Résistance-Mitgieder
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