Codename Hélène
nicht, doch ungefähr neuntausend bis zehntausend Kollaborateure und Milizionäre dürften in den Wochen der épuration sauvage , der wilden Selbstreinigung, standrechtlich erschossen worden sein. Weniger als in allen anderen der von Deutschen besetzten und bald von deren Schreckensherrschaft erlösten Länder Europas. Etwa die Hälfte von ihnen wurde unmittelbar nach der alliierten Landung hingerichtet, Tausende jeweils direkt nach der Befreiung bestimmter Orte und bestimmter Regionen. Sogenannte »horizontale Kollaborateure«, die dem Begriff entsprechende Beziehungen zu den Besatzern gepflegt hatten, unter ihnen zahlreiche Prostituierte, wurden durch die Straßen getrieben, mit geschorenen Köpfen, zum Teil nackt ausgezogen und mit Hakenkreuzen auf ihrer Brust gebrandmarkt. Der Volkszorn traf auch Opfer nachbarlicher Denunzianten. Die Zahl der enfants des boches aus Verbindungen von Französinnen und Deutschen wird auf über hunderttausend geschätzt. Auch darüber wurde nicht geredet, auch das wurde verdrängt wie umgekehrt im dann besiegten Nazi-Reich die Zahl der Kinder, die von sogenannten Fremdarbeitern mit deutschen Frauen gezeugt wurden
Bevor es dann ab September eine provisorische Regierung unter dem Nationalhelden Charles de Gaulle gab und wieder Recht gesprochen wurde, statt gesetzlos im Namen der Gerechtigkeit geurteilt, ist die Todesstrafe 867 -mal vollstreckt worden. Alle anderen der insgesamt 6763 zum Tode verurteilten Kollaborateure und Milizionäre, viele davon in Abwesenheit bestraft, manche ausgerechnet von jenen Richtern, die unlängst noch im Namen des Vichy-Regimes Widerstandskämpfer verurteilt hatten, wurden lediglich inhaftiert oder verbannt und in den 50 er-Jahren begnadigt durch eine Amnestie des französischen Staatspräsidenten.
Den Schuldigen gegenüber stehen die Zahlen der Unschuldigen: mehr als 76 0 00 Juden, die aus Frankreich deportiert wurden, die meisten davon vorher schon aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben oder geflohen, aber seit Langem in ihrer neuen heimisch. Sie hatten sich auf Befehl Pétains und Lavals registrieren lassen mit Adresse, Beruf, Staatsangehörigkeit, ohne zu ahnen, dass sie es denen, die sie vernichten wollten, dadurch leicht machten, sie zu finden. Ungefähr 30 0 00 Franzosen sind während der Besatzung bei Kämpfen der Résistance mit deutschen Truppen gefallen oder von denen und deren faschistischen Kumpanen von der Milice hingerichtet worden.
Auch die intellektuellen Kollaborateure, Herolde der Nazi-verwandten Etat-Français -Ideologie, haben aufgehört zu schreiben und versuchen, sich zwischen den Zeilen zu verstecken. Doch ihre Hassgesänge waren gedruckt worden und deshalb nachlesbar. Unsägliche Hetztiraden, die sie verfassten im Glauben an ein Tausendjähriges Reich, sind eindeutige Indizien. Robert Brasillach, ein zweitklassiger Schriftsteller, bei Weitem nicht so talentiert wie der dichtende Arzt und Faschist Céline, fanatischer Antisemit und Autor übler Pamphlete in seiner Zeitschrift Je suis partout , hatte da noch im Juni 1944 den Fortsetzungsroman Six heures à perdre veröffentlicht. Es war sein letztes Werk. Ihm blieben zwar noch mehr als die im Titel genannten sechs Stunden, denn hingerichtet wegen Kollaboration mit dem Feind wurde er erst im Februar 1945 , aber seine Zeit war abgelaufen wie die der von ihm besungenen Besatzer. Deren dichtender Held in Uniform, Hauptmann Ernst Jünger, räumte seine Suite im Hôtel Raphaël überhastet über Nacht, ließ zwar fürs Personal Trinkgeld und Blumen auf dem Schreibtisch zurück, vergaß allerdings beim Rückzug heim ins Reich einige seiner Tagebuchaufzeichnungen im Schrank.
Pétain selbst hatte Vichy bereits verlassen müssen. Der Kurort war im August 1944 zwar noch von den Deutschen besetzt. Aber sie hatten den Marschall und seine Marionettenregierung nach Sigmaringen ins Schloss der Hohenzollern verfrachtet. Der einst von den meisten Franzosen verehrte Held von Verdun dämmerte in dem als »provisorische Hauptstadt des besetzten Frankreichs« bezeichneten süddeutschen Provinzstädtchen vor sich hin. Sein Etat Français bestand nur noch auf dem Papier. Etwas zu sagen oder gar etwas zu befehlen hatte er schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich war er bereits im Sommer 1944 im Diesseits jenseits von Gut und Böse. Heute würde man seinen Zustand als dement bezeichnen. Seine »Exilhauptstadt« wurde im April 1945 von Franzosen besetzt, er in seine Heimat zurückgeschafft und ein Jahr
Weitere Kostenlose Bücher