Codename Hélène
erschossen deutsche Mörder, die Runenzeichen auf dem Kragenspiegel ihrer schwarzen Uniformen trugen, am 9 . und 10 . Juni 1942 alle männlichen Bewohner des Ortes Lidice ab dem 15 . Lebensjahr, deportierten die Frauen in Konzentrationslager und übergaben deren Kinder Nazi-Familien in Deutschland oder brachten sie gleich selbst um, falls sie ihnen nicht arisch genug aussahen. Lidice steht beispielhaft für viele beispiellose Kriegsverbrechen der SS , ist so schändlich und unvergessen wie Oradour in Frankreich oder Sant’Anna di Stazzema in Italien, wo gleichfalls als »Sühne« für ein Attentat unschuldige Frauen und Männer und Kinder gnadenlos verbrannt, erschossen, totgeschlagen wurden.
Zu den verschwiegenen großen Erfolgen der Abteilung Special Operations Executive insgesamt gehörte auch ein Anschlag im besetzten Griechenland, wo es mithilfe der Partisanen gelang, eine Eisenbahnbrücke zu sprengen und die wichtigste Nachschublinie der Deutschen zu unterbrechen. Oder eine Aktion von Spezialkommandos, ausgebildet von SOE , die 1943 im norwegischen Rjukan die Anlagen der Norsk-Hydro-Werke gesprengt hatten, wo schweres Wasser erzeugt wurde. Deutsche arbeiteten an der Entwicklung von Atomwaffen, und dafür brauchten die Wissenschaftler schweres Wasser. Zwar nahm die Fabrik ihren Betrieb nach Wochen wieder auf. Aber auch die Fähre, die Dutzende von Fässern, gefüllt mit dem begehrten Stoff, zu den Labors ins Deutsche Reich transportieren sollte, versenkten 1944 norwegische und britische Saboteure, indem sie einen Sprengsatz im Maschinenraum zündeten.
Nichts davon drang aus dem Norgeby House des SOE in der Baker Street nach draußen. Weil sie einen Schattenkrieg führten, blieben ihre Siege wie auch ihre Niederlagen im Schatten. Die deutsche Abwehr brüstete sich zwar damit, schon lange bei den Feinden ihre Agenten eingeschleust zu haben, aber solche Gerüchte gehörten von jeher zum Psychokrieg in Geheimdienstkreisen. Hätte die Gestapo wirklich über Insiderwissen verfügt, so wäre es geradezu fahrlässig dumm gewesen, mit Funksprüchen, die Buckmaster aus London bekanntlich kühl britisch konterte, den angeblich verschlafenen britischen Löwen zu reizen und zu wecken.
Was im Sommer 1944 auf den Schlachtfeldern Europas passierte, nicht nur in Frankreich, erfahren die Agenten Hélène und Roland und Hubert aus den Nachrichtensendungen der BBC . Inzwischen weiß die Schlossbesatzung, dass die Landung an der Normandieküste gelungen ist, dass im Süden ebenfalls die Alliierten gelandet sind und dass überall im Land schwere Kämpfe stattfinden. Aber auch in der Abgeschiedenheit des halb verfallenen safe house scheint der Krieg zumindest auf Sicht weiterzugehen. Captain John Alsop trainiert hinter dem Gebäude die übergelaufenen Polizisten des Vichy-Regimes, zeigt ihnen den richtigen Umgang mit den britischen Waffen, während aus einer Dachluke an der Vorderseite heraus Hélène die etwa zwei Kilometer entfernte Straße im Auge behält, auf der sich Last- und Panzerspähwagen und Jeeps in langen Kolonnen bewegen. Zum Château schicken die Deutschen nicht mal eine Patrouille rüber – die allerdings würdig empfangen worden wäre von schussbereiten Maquisards –, in dem ausgestorben und verfallen wirkenden Gebäude vermuten sie kein Leben mehr. Sie marschieren vorwärts und, wie John Farmer und Nancy Wake hoffen, zur nächsten Niederlage.
Die Herrschaft des Bösen geht zu Ende. Bald wird abgerechnet, bald gilt nur noch das Alte Testament. Wer selbst nie Gnade gab, darf auf keine hoffen. Das ahnen auch die Kollaborateure. Die freiwilligen und die zum Mitmachen gezwungenen. Milizionäre, die vier Jahre lang Angst und Schrecken unter ihren anständig gebliebenen Landsleuten verbreitet hatten, wollen noch schnell vor dem sich abzeichnenden Sieg der anderen die Fronten wechseln. Manche verbrennen ihre Uniformen, die blauen des Teufels, und singen statt der Hymne auf Pétain wieder die Marseillaise, als sei ihnen nie etwas anderes als die Verheißung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit über die Lippen gekommen. Manche schlüpfen beim Rückzug der Besatzer von der nationalen Bühne in die Rolle von Komparsen und hoffen, im feuchtfröhlichen Chaos der Befreiung, die überall dort bereits besungen und begossen wird, wo sich die Deutschen ergeben oder aus dem Staub gemacht hatten, nicht weiter aufzufallen.
Doch für viele ist le jour de gloire ihr letzter Tag auf Erden. Belastbare Statistiken existieren zwar
Weitere Kostenlose Bücher