Codename Hélène
den Besuchen erkundet sie die Bedingungen im Knast, schreibt anschließend auf, wann die Wachen gewechselt werden und welche Straße nach dem Ausbruch der beste Fluchtweg sei. Denn bevor er nach Hippolyte verlegt wird, muss Ian befreit werden. Pat O’Leary fühlt sich zudem moralisch verpflichtet, alles zu tun, weil Garrow es gewesen war, der ihn damals aus seiner Zelle befreien ließ. Er hat einen Kontaktmann im Lager, der ihm den Namen eines bestimmten Wärters nennt. Für eine gewisse Summe, sagen wir rund 50 0 00 Francs, was zwei Jahresgehältern entsprach, sei der bereit, zu helfen und Ian Garrow in der Uniform eines Aufsehers rauszuschmuggeln. Der Plan klingt einfach, die Ausführung erfordert Mut. »Cousine« Nancy hat Mut.
Also fährt sie, 10 0 00 Francs in der Tasche als Anzahlung, nach Mauzac, wo sie sich mit dem Wärter trifft. Der verlangt 50 0 00 sofort. Henri Fiocca schickt telegrafisch am anderen Morgen weitere 40 0 00 Francs. Noch aber fehlt eine echte Uniform, die für Ian Garrow ins Gefängnis geschmuggelt werden soll, damit er sich in ihr beim Wachwechsel unter die Aufseher mischen und mit ihnen unauffällig das Lager verlassen kann. Wer uniformiert ist, wird nicht kontrolliert. Paul Ullmann, Schneider aus Marseille, der zu den stillen Helfern des Netzwerks gehört, näht über Nacht eine passende Uniform zusammen. Die übergibt er am anderen Morgen Pat O’Leary und der wiederum am folgenden Abend Nancy Fiocca, als sie sich auf dem Bahnhof in Toulon treffen.
Die Zeit drängt. Möglichst schon am nächsten Morgen soll Ian Garrow als Polizist verkleidet das Lager verlassen. Jede Verzögerung könnte das Ende aller Fluchtpläne bedeuten. Nancy Fiocca bleibt kühl. Sie hat nun die Uniform im Koffer. Sie hat die 50 0 00 Francs in der Tasche. Sie hat sich mit dem bestechlichen Aufseher verabredet. Sie wird nicht mal dann nervös, als der sich verspätet. Sie übergibt ihm aber nur 20 0 00 und die Uniform. Ob sie, was zu ihr passen würde, dem Franzosen klargemacht hat, was sie mit ihm anstellt, falls er sie reinlegen sollte? Oder ob es gereicht hat, ihm zu sagen, dass seine Frau die Restsumme bekommen wird, aber erst dann, falls alles wie besprochen klappt? Die Flucht gelingt, und Garrow wird mithilfe seines eigenen Netzwerks an die spanische Grenze gebracht, dann von ortskundigen Bergführern über die Pyrenäen nach Spanien geleitet. Zwei Monate, nachdem Captain Ian Garrow als französischer Polizist das Gefängnis verlassen hatte, kommt er in England an.
Der angeblichen Cousine Nancy Fiocca verdankte er sein Leben. Er blieb bis zur Befreiung ihr »Cousin«. In ihrer SOE -Personalakte steht am Ende der Beurteilungen über Nancy Wake, dass im Falle eines Falles – und was damit gemeint war, musste nicht näher erläutert werden – ihr Cousin Captain Ian Garrow vom MI 5 benachrichtigt werden sollte, einer Abteilung des Militärischen Geheimdienstes, die sie CIRCUS nannten. Seine Rolle im französischen Circuit übernahm nach Garrows Flucht Madame Nancy Fiocca. O’Leary blieb zwar die treibende Kraft, der Mann, der plante, aber er brauchte Kontakte in der Stadt. Marseille schien zu gefährlich geworden zu sein.
Wie gefährlich es tatsächlich geworden war, zeigte sich wenige Monate später. Cole hatte seinen Auftrag erfüllt. Der Verräter kassierte seinen Judaslohn. Angst vor möglichen Racheakten hatte er nicht. Erstens glaubte er an den Wahn der Herrenrasse, sich bald die ganze Welt untertan zu machen, was allerdings nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad und der Kapitulation der eingeschlossenen 6. Armee in weite Ferne gerückt war. Zweitens wusste er, dass alle, die er ans Messer geliefert hatte, sterben würden.
Als die Deutschen, dann Herrscher über Leben und Tod auch im bislang freien Frankreich, am 2 . März 1943 morgens um sechs Uhr in der Praxis von Dr. Rodocanachi klingelten, wusste der Arzt, dass es vorbei war. Scheinbar gelassen ergab er sich in sein Schicksal. Seine einzige Sorge war dasjenige seiner Frau Fanny. Die blieb, schwer krank, in Marseille zurück. Er schaffte es, die Gestapo davon zu überzeugen, dass sie nicht wusste, was er tat. Nahe der Goethe-Stadt Weimar, deren Einwohner nach dem Krieg beteuerten, nichts vom KZ Buchenwald gewusst zu haben, auch nie auf die Märsche der Todgeweihten in den Straßen ihrer Stadt geachtet zu haben, die von der SS nach oben getrieben wurden auf den Etterberg, stirbt Georges Rodocanachi vor sich hin. Bei einem der Appelle in der
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