Codename Hélène
Freund reden würden. Also freute sie sich, als bei ihm das Gerücht ankam, dass sie in der anderen Wohnung ihren jungen Liebhaber empfangen würde. Selbstverständlich aber wusste Henri Fiocca von der wahren Bedeutung der zweiten Wohnung. Denn er bezahlte die Miete.
An Coles Geschichte über die Hintergründe und Ursachen seiner Flucht bekamen langsam aber auch O’Leary und Garrow ihre Zweifel. Plötzlich fehlte Geld, das Cole angeblich in der Unterwelt für Informationen hatte ausgeben müssen, doch bekanntlich, verteidigte er sich, stellten Kriminelle keine Quittungen aus. Das Gegenteil konnten sie ihm nicht beweisen. Als einer ihrer Agenten aus dem Netzwerk, kaum in Paris angekommen, den Deutschen in die Falle lief, hielten sie das jedoch nicht mehr für einen Zufall. Es gab nur einen, der ihn verraten haben konnte – Paul. Von einem zweiten Doppelagenten ahnten sie nichts und entschlossen sich deshalb, Harold Cole zu erledigen, falls sich ihr Verdacht erhärten ließ.
Und zwar auf jene Art, die Rodocanachi vorgeschlagen hatte. Killing him softly mit der Insulinspritze, und ab ins Hafenbecken. Cole leugnete zwar, für die Deutschen zu arbeiten, aber dass es der Wahrheit entsprach, bewies er selbst. Er schien zu spüren, was sie vorhatten mit ihm. Gefahren konnte er riechen. Er müsse dringend pinkeln, sagte er beim Treffen in Rodocanachis Wohnung, ging ins Badezimmer, schloss die Tür hinter sich ab, öffnete das Fenster, sprang auf das Vordach eines Schuppens und verschwand in einer der dunklen Gassen. In der Unterwelt hatte er durch seine Aufgaben im Netzwerk, Waffen oder Pässe zu besorgen, beste Kontakte. Wie sich herausstellen sollte, hatten er und der andere, Vorname Roger, bereits genug über das Pat-O’Leary-Netzwerk erfahren und ihren Auftraggebern verraten, was sie über die wussten und wie die aussahen und wo die wohnten: Pat O’Leary. Georges Rodocanachi. Donald Caskie. Ian Garrow.
Die Berichte sind im Besitz der Gestapo, als im November 1942 die Wehrmacht im Süden einmarschiert. Hunderte ihrer Agenten waren bereits Wochen zuvor dort eingesickert und hatten sich die bei der Vichy-Polizei vorliegenden Akten angeschaut. Dabei Namen gefunden, die auch in ihren Listen standen. Garrow wurde – man darf rückblickend sagen: zu seinem Glück – im Oktober 1942 noch von der französischen Polizei festgenommen. Die Gestapo zog erst vier Wochen später, am 11 . November 1942 , bei der Totalbesetzung Frankreichs, ins Land ein und begann dann, die Strukturen für ihre Schreckensherrschaft auszubauen.
Die Gendarmen des Vichy-Regimes erwischten Garrow in einem Bistro, wo er mit Pat O’Leary verabredet war. Der sah von der anderen Straßenseite aus, wie sie ihn abführten, machte kehrt, ging nicht mehr zurück ins Hinterzimmer bei Rodocanachi, tauchte in einem sicheren Haus in der Nähe von Marseille unter. Beim Verhör machte Garrow nur Angaben zur Person, nannte seinen Dienstgrad als Captain der britischen Armee. Weitere Fragen, zum Beispiel die, wo er sich in all den Monaten nach seiner Flucht versteckt hatte, beantwortete er nicht. Die Methoden, mit denen die Gestapo in solchen Fällen das Schweigen brach, indem sie Verdächtigen die Knochen brach, sind noch nicht üblich. Der französische Richter, ein überzeugter Anhänger Pétains, verurteilte Garrow wegen der Flucht aus der Zitadelle zu zehn Jahren Haft im berüchtigten Gefängnis von Saint-Hippolyte-du-Fort. Garrows Anwalt legte Revision ein, was bis zu einer Entscheidung drei Monate, aber ebenso gut auch weniger als eine Woche dauern konnte. So lange wurde er in einem der Internierungslager des Vichy-Regimes, in Mauzac, eingesperrt.
Keiner glaubte daran, dass es bei einer zweiten Verhandlung zu einem anderen Urteil kommen würde. Nancy Fiocca übernahm den Auftrag, Garrow aus dem Lager rauszuholen. Sie schrieb an die Gefängnisleitung, Ian Garrow sei ihr Cousin, ihre und seine Mutter nämlich Schwestern, die in Australien und Neuseeland lebten. Ians Mutter, ihre ferne Tante, habe sie gebeten, sich um ihren Sohn zu kümmern. Hiermit ersuche sie also höflich um die Erlaubnis, ihm Essenspakete oder Bücher schicken und ihn besuchen zu dürfen. Das wurde genehmigt, denn Madame Fiocca schien nach wie vor erhaben über jeden Verdacht. In der Personalakte »Fiocca, Mme. Nancy Grace Augusta« des britischen Geheimdienstes wird das bestätigt: »In 1940 , pretending to be his cousin, she frequently visited him with with provisions and books.«
Bei
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