Codename Hélène
Kälte, die bis zu sieben Stunden dauerten und bei denen die SS -Wachmannschaften so lange auf die eindroschen, die zusammenbrachen, bis sie sich nicht mehr rührten, hatte er sich eine Lungenentzündung zugezogen. Als Arzt weiß er, dass er nicht mehr zu retten sein wird. Medikamente für Häftlinge gibt es nicht.
Er weigerte sich bis zum Schluss, bei den morgendlichen Appellen den Kopf gesenkt zu halten, seine Kappe in der Hand, wie es in der Lagerordnung vorgeschrieben war. Er ging stets aufrecht, blickte seinen Mördern in die Augen. Jeden Tag bekam er mit dem Knüppel Schläge auf den Kopf. Er fiel, aber er gab nicht nach. Irgendwann würden sie ihn eh töten. So wie die anderen. Seiner Frau schrieb er auf einer letzten Postkarte, auf Deutsch, denn sonst wurde sie nicht abgeschickt, dass seine Gedanken stets bei ihr seien und dass er moralisch in gutem Zustand sei. Das stimmte.
Sterben wollte er nicht draußen irgendwo auf dem Appellplatz wie so viele der 56 0 00 Häftlinge, die in Buchenwald von der SS ermordet wurden. Sterben wollte er im Kreise anderer Inhaftierter. »Singt mir beim Sterben die Marseillaise«, hatte er die Kameraden gebeten, und so berichteten sie es dann seiner Frau Fanny. Rodocanachi starb am 10 . Februar 1944 . Zwei Tage später bekam sie die Karte von ihm mit jener Versicherung, dass seine Moral in »gutem Zustand« sei. Überliefert ist auch sein letzter Satz, nachdem die Marseillaise verklungen war: »A bas les Boches, vive la France«, nieder mit den Deutschen, es lebe Frankreich! In allen Lagern und in allen Gefängnissen in Frankreich sangen die Häftlinge, sobald einer der ihren zur Hinrichtung aus der Zelle geholt wurde, zum Abschied die Marseillaise. Das konnten ihre Bewacher nicht verhindern. In den Chorgesängen der Gefangenen, manchmal tausendfach aus den Zügen, mit denen sie in die Vernichtungslager der Deutschen gebracht wurden, erklang immer wieder trotzig wehmütig herzzerreißend die Hymne des freien Frankreich.
Nach dem Krieg wurde in Marseille eine Straße nach Georges Rodocanachi benannt. Am ehemaligen Gestapo-Hauptquartier, das um die Ecke in der Nähe seiner Wohnung lag, erinnert eine Gedenktafel an ihn und all die anderen, die sich widersetzten, statt sich dem Feind zu beugen:
»Gedenkt, hinter den Mauern dieses Hauses folterte die Gestapo zwischen 1942 und 1944 Hunderte von Widerstandskämpfern. Die nicht durch die Folter starben, wurden in Vernichtungslager der Nazis transportiert, und nicht alle kamen von dort zurück. Wir werden sie nie vergessen, denn sie gaben ihr Leben, um die Ehre Frankreichs zu retten.«
Bereits Anfang 1943 hätte auch Nancy Fioccas Einsatz für die Résistance mit dem Tod enden können. Sie war bereits verhaftet, saß bereits in einer Zelle, wurde bereits verhört. Es konnte sich nur noch um Tage handeln, bis die Gestapo sie zu sich holen würde. Angesichts der Methoden, mit denen ihre gebildeten Folterknechte so viele zum Reden brachten, die eigentlich eisern entschlossen waren, zu schweigen, hätte es wahrscheinlich nicht lange gedauert, bis die Deutschen auch die »Weiße Maus« auf ihre Art »überredet« hätten. Und was folgte, stand im entsprechenden Erlass der Besatzungsmacht ja geschrieben: Wer Feinden bei der Flucht hilft oder sie versteckt oder sie unterstützt, wird mit dem Tode bestraft.
Doch ein genialer Bluff rettete ihr das Leben.
KAPITEL 3
Die Flucht der »Weißen Maus«
D ie Geschichte, wie es Pat O’Leary gelang, die »Weiße Maus« aus der Falle zu befreien, in der sie scheinbar ausweglos gefangen war, und ihr so das Leben zu retten, klingt zwar spannend. Aber außer der Schilderung in Nancy Wakes Erinnerungen gibt es keine Aussagen oder gar Verhörprotokolle im Archiv der Gendarmerie Nationale von Toulouse. Mangels anderer Beweise muss man sich auch für die Schilderung eines weiteren Abenteuers, in dem neben Nancy Fiocca ein Schwein eine gewichtige Rolle spielt, ein flirtender deutscher Gestapo-Offizier, ein großer Koffer, ein kleiner Tunnel und vier junge Franzosen, auf ihr Gedächtnis verlassen.
Beide Episoden aber dürften so verlaufen sein, wie sie es im Rückblick auf ihr Leben aufgeschrieben hat. Beide passen zu ihrer grundsätzlichen Haltung, beide entsprechen ihrem üblichen Verhalten. Ihre in Wahrheit ja doch ziemlich bedeutenden Rollen in verschiedenen geheimen Netzwerken oder im Maquis hat Nancy Wake stets heruntergespielt. Obwohl es genügend Anlässe gegeben hätte, stolz zu sein. Zur
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