Codename Hélène
aufgrund ihrer Qualifikationen für besondere Einsätze empfehlen: »This Lady has qualifications which render her valuable for special operation duties.«
Special Operations Executive konnte Personal für ihre besonderen Unternehmungen natürlich nicht per Zeitungsanzeige und einer Beschreibung des künftigen Arbeitsplatzes anwerben. Also brauchte es neben erfahrenen Offizieren für die Ausbildung ein Netzwerk von zivilen Informanten, die meldeten, sobald ihnen, egal in welchem Beruf – Banker oder Anwalt, Wissenschaftler oder Künstler –, Menschen mit außergewöhnlichen Eigenschaften aufgefallen waren. Die wurden dann von Profis unauffällig beobachtet und überprüft, und falls sich der erste Eindruck bestätigte, zu einem unverbindlichen Gespräch eingeladen. Was dann wiederum über Bekannte, Freunde oder die Kollegen lief, von denen der erste Tipp stammte. So wie es auch bei Nancy Fiocca geschehen war.
Im anderen Reservoir weiblicher Talente, der Women’s Auxiliary Air Force ( WAAF ), einer der Royal Air Force attachierten Armee, gab es unter Tausenden dort engagierter Frauen ebenfalls Begabungen zu entdecken. Auch in diesem Biotop wurden die Menschensammler fündig. Falls ein erstes Gespräch vielversprechend verlief, folgten drei, vier weitere intensivere Befragungen. Jelsop war sozusagen nur für den Einlass in die Welt der Geheimen zuständig, nach ihm saßen den Kandidaten Offiziere Ihrer Majestät gegenüber, die aber noch verschwiegen, worum es in Wahrheit ging. Die residierten nicht mehr in einem billigen Hotelzimmer, sondern in einem der Häuser von SOE . Manchmal wechselten sie, wenn es einen begründeten Verdacht dafür gab, dass der deutsche Geheimdienst durch seine Agenten die Adresse herausgefunden haben könnte, über Nacht ihre Dependance.
Vorrangig suchen die Anwerber Frauen, die jung, hübsch und tapfer sind. Nancy Fiocca kann alle drei Bedingungen erfüllen. »Jung« und »hübsch« ist nicht etwa männlichen Wunschvorstellungen geschuldet, sondern gehört zur Strategie von Special Operations Executive . Junge, hübsche Frauen können sich bei gefährlichen Aufgaben im Feindesland besser bewegen: Man setze sie zum Beispiel auf ein Fahrrad, hänge einen Korb ans Lenkrad, und schon sehen sie aus wie irgendeine der vielen jungen, hübschen Französinnen, die in Zeiten der Not unterwegs sind auf der Suche nach Lebensmitteln für ihre Familien. Junge Männer dagegen sind auf den ersten Blick verdächtig, weil Milice und SS Jagd machen auf alle, die sich der Verpflichtung zur Zwangsarbeit entzogen hatten und vom Alter her dafür infrage kommen. Junge, schöne Frauen fallen nur auf wegen ihres attraktiven Aussehens, aber erregen nicht automatisch Verdacht. In bestimmten Momenten kann das ein lebensrettender Vorteil sein – immer dann, wenn sie unvermutet und unerwartet in eine Kontrolle geraten. Außerdem würden sie, erklärte Buckmaster, allein durch ihre Gegenwart beruhigend und stabilisierend auf die Männer in ihrer Umgebung wirken.
Dutzende von Beispielen aus der nicht mehr geheimen Geschichte von SOE belegen das. Da wird geflirtet: nicht auf Teufel komm raus, sondern auf Teufel hau ab. Der trägt Uniform. Die schwarze der SS oder die blaue der Milice . So entkam während jener Zugfahrt von Névache nach Marseille Madame Nancy Fiocca mit dem Schwein im Koffer einer Verhaftung, weil sie der Flirt mit dem Gestapo-Mann vor den Polizisten schützte. Falls die Frauen aufflogen und festgenommen wurden, halfen ihnen allerdings Jugend und Schönheit nicht mehr. Von fünfzig Agentinnen, die von SOE nach Frankreich in den Untergrund geschickt worden waren, fielen fünfzehn der Gestapo oder der Milice Française in die Hände – und nur drei von ihnen überlebten Folter und Konzentrationslager.
Jugend und Schönheit sind sichtbare Kennzeichen. Wie aber lässt sich Tapferkeit erkennen? Für die von Nancy Fiocca gibt es glaubwürdige Zeugen, zum Beispiel die Aussagen der drei dank ihrer Hilfe geretteten britischen Musketiere Leslie Wilkins, Ian Garrow und Lewis Hodges. Deshalb besteht sie locker die weiteren Tests. Ihre Intelligenz wird im Gegensatz zu ihrem Auftreten und ihrem Aussehen als nur bedingt atemberaubend beurteilt, hervorzuheben seien aber – und das dürfte für künftige Herausforderungen wesentlicher sein – ihr gesunder Menschenverstand, ihr Mut. Inzwischen weiß Nancy Fiocca ja, was in Wahrheit hinter all den Interviews steckt und warum sie ausgesucht worden ist. Sie ahnt
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