Codename Hélène
von Guildford auf dem Land untergebracht. »She was drunk on arrival«, steht anfangs in der Beurteilung von Nancy Wake, aber wenn sie wirklich betrunken gewesen wäre bei ihrer Ankunft, dann hätte man sie wohl gleich zurückgeschickt nach London.
Bekanntlich vertrug sie bis ins hohe Alter dank ihrer außergewöhnlichen Leber mehr als die meisten Männer. Sie war nicht etwa betrunken gewesen, sondern aufgeregt, nervös, gespannt. Die erste Beurteilung wird deshalb revidiert, nachdem man ihre Eigenschaften erkannte und ihr Verhalten richtig einschätzen konnte. Nicht ohne bewundernden Unterton vermerkt ein Ausbilder, sie habe saufen und fluchen können wie ein Soldat – »drinks and swears like a trooper« –, aber stets habe sie gewusst, wann sie aufhören musste. Wer sie nie näher erlebt hatte, konnte tatsächlich ihre fröhliche und oft nervig ausgelassene Art leicht mit Trunkenheit verwechseln – »her almost abnormal cheerfulness could be easily mistaken for drunkenness«.Denn sobald es zur Sache ging, sobald es ernst wurde, war sie konzentriert und nur noch fixiert auf die vor ihr liegende Aufgabe. Jetzt beim Training und dann in Frankreich sowieso.
Das Training in Stufe eins der Ausbildung, die insgesamt von Mitte Januar bis Mitte April, also etwa drei Monate, dauert, entspricht Buckmasters Ankündigung, dass seine Leute selbst aus einem zivilen Schlappschwanz was Brauchbares machen könnten. Und so werden seine Vorgaben in die Praxis umgesetzt: Jeden Morgen vor dem Frühstück ein halbstündiger Geländelauf in Kälte und Dunkelheit, wobei die Kandidaten nicht nur rennen, sondern unterwegs über Hürden springen, Zäune überklettern oder so geschickt von drei Meter hohen Balken fallen müssen, dass sie auf beiden Beinen landen, ohne sich zu verletzen. Wer sich im Ernstfall auf der Flucht in Frankreich etwas brechen würde, wäre verloren. Sie müssen durchs Unterholz robben, und sie müssen sich von Dachböden oder Scheunentoren abseilen, kurz: Sie müssen in kurzer Zeit die übliche Grundausbildung durchstehen, die beim Militär gilt.
Zwar sind die Amateure direkt aus zivilen bürgerlichen Berufen plötzlich in dieser harten Schule der Profis gelandet, aber die Sergeants oder Corporals der britischen Armee, die sie drillen, ändern deshalb nicht ihren Umgangston oder ihre Methoden. Sie geben kein Pardon und verlangen Pflichterfüllung. Am Ende der langen Tage waren die Kandidaten so erschöpft, dass alle nur noch schlafen wollten. Jeder und jede für sich. Abendliche Runden im nächstgelegenen Pub entfielen gleichfalls.
Doch richtig hart wurde es erst in den folgenden fünf Wochen in Schottland. Die Landschaft von Arisaig und Morar an der Küste bei Iverness bietet alles, was Ausbilder lieben und Auszubildende wie Nancy Wake hassen: Schlamm, Regen, Kälte, Wind. Die Übungen des Trainingsprogramms passen zu den äußeren Umständen: Sie bekommen zum Beispiel einen schweren Rucksack aufgeschnallt und einen Kompass in die Hand gedrückt und müssen ein Ziel, das dreißig Meilen entfernt liegt und auf keiner Landkarte verzeichnet ist, in einem Tagesmarsch gefunden haben. Sie lernen die richtige Mischung für die Herstellung von Bomben und Sprengsätzen. Sie üben auf freiem Feld den Aufbau der unhandlichen Funkgeräte und die Ausrichtung der Antennen, werden anhand von Modellen instruiert, wo später, falls sie im besetzten Frankreich eine Lok in die Luft jagen sollten, die Dynamitstangen anzubringen sind. Sie erfahren, wie man sich aus Handschellen mittels simpler Sicherheitsnadeln, jener epingles anglaises , mit denen einst in Marseille die Bürger für Großbritannien und gegen das Vichy-Regime demonstriert hatten, befreien kann. Sie werden in Schlauchbooten nachts in die Bucht vor Inverness gefahren, wo der ortskundige Mann am Ruder mit guten Wünschen auf ein Begleitschiff wechselt und es nun allein an ihnen liegt, zurückzufinden zum Strand. Sie lernen Lichtsignale auszusenden, nach denen sich Piloten beim Abwurf der Container orientieren. Spezialisten allerdings brauchte es zum Funken, zum Morsen. Das ließ sich nicht in den acht, neun Wochen der Ausbildung lernen.
Im Training waren Container nicht wie im Einsatz gefüllt mit Maschinenpistolen, Gewehren, Dynamit, Handgranaten, Revolvern, Munition, Batterien oder auch Schokolade und Zigaretten, aber genauso schwer. Sie auf bereitstehende Karren zu hieven musste in Dreiergruppen geübt werden. Wie verscharrt man danach die Fallschirme
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