Codename Merlin - 3
aufstehen und Euch der Gemeinde zeigen, bevor diese fest davon überzeugt ist, auch Ihr wäret tot«, schlug Merlin mit so sanfter Stimme vor, wie es bei dem stetig zunehmenden Lärm aus zornigen, verängstigten und verwirrten Stimmen nur möglich war.
»Was?« Einen Moment lang blickte Staynair ihn nur an; ganz offenkundig war auch er durchaus verwirrt. Doch dann wurde sein Blick erkennbar klarer. Er verstand, und so nickte er erneut, dieses Mal bereits ungleich kräftiger.
»Ihr habt recht«, sagte er und stand auf.
»Wir müssen Euch in Sicherheit bringen, Eure Eminenz!«, drängte einer der Unterpriester. Merlin war genau der gleichen Ansicht, doch Staynair schüttelte den Kopf. Die Geste war kräftig und entschieden.
»Nein«, sagte er mit fester Stimme.
»Aber, Eure Eminenz …!«
»Nein«, wiederholte er, noch nachdrücklicher. »Ich weiß diese Überlegung zu schätzen, Pater, aber ich …« − seine Handbewegung schloss die ganze Kathedrale ein, und auch den fast körperlich spürbaren Zorn der Gemeinde, von der diejenigen, die sich diesem Mordversuch am nächsten befunden hatten, nun den anderen weiter entfernt stehenden Anwesenden Erklärungen zuriefen − »… werde jetzt hier gebraucht.«
»Aber …«
»Nein«, sagte Staynair ein drittes Mal, und sein Tonfall hatte etwas Endgültiges. Dann wandte er sich ab, drängte sich zwischen den Szepterträgern und den Kerzenträgern hindurch, die immer noch voller Entsetzen wie angewurzelt im Gang standen, und schritt ruhig weiter das Kirchenschiff hinab.
Die anderen Mitglieder der Prozession starrten einander an; sie alle waren noch zu erschüttert und zu verwirrt, um genau zu wissen, was sie nun eigentlich tun sollten, doch Merlin straffte die Schultern und folgte wortlos dem Erzbischof. Auch er mühte sich noch, die Entscheidung des Erzbischofs zu verstehen, doch je länger er darüber nachdachte, umso klarer wurde ihm, dass Staynair vollkommen recht hatte. Genau hier wurde er jetzt gebraucht … und das gleich in mehrerlei Hinsicht.
Vorsichtig schloss Merlin die Zündpfanne seiner Waffe und ließ den Schlagbolzen des einen bislang noch unabgefeuerten Laufes seiner Waffe wieder in ihre Ausgangsposition zurückgleiten. Ohne den Schritt zu verlangsamen, schob er die Waffe in ihr Holster zurück, während er Staynair das Mittelschiff der Kathedrale hinab folgte und dabei die versammelten Gläubigen zu beiden Seiten des Ganges eingehend betrachtete. Die Wahrscheinlichkeit, es könne sich hier noch eine zweite Attentätergruppe aufhalten, erschien ihm geradezu verschwindend gering, und doch hatte Merlin nicht die Absicht, irgendetwas für selbstverständlich zu halten, wenn es um die Sicherheit von Maikel Staynair ging. Zumindest nichts außer mir selbst, dachte er grimmig.
Diejenigen, die dem Mittelgang am nächsten saßen, schauten zu, wie ihr Erzbischof an ihnen vorbeischritt, ganz alleine, gefolgt nur von einem einzelnen Gardisten mit grimmiger Miene und blauen Augen, und in fast körperlich spürbaren Wellen breitete sich Erleichterung in der ganzen Kathedrale aus; sie vertrieb das Entsetzen, die Verwirrung und den Zorn, die sich bereits über die gesamte Gemeinde gelegt hatten. Staynairs eigene Miene war deutlich weniger grimmig als die Merlins, und es schien ihm leichtzufallen, so weit die Beherrschung zu wahren, dass er nicht zusammenzuckte, als weitere Hände nach ihm ausgestreckt wurden und ihn berührten − deutlich leichter als Merlin. Die Gemeindemitglieder tasteten nach ihrem Bischof, als wollten sie alle sich persönlich überzeugen, dass ihm wirklich nichts geschehen war.
Zuzulassen, dass diese Leute nach dem Erzbischof griffen, dass sie ihn tatsächlich sogar berührten, fiel Merlin unendlich schwer, doch er zwang sich dazu, nicht einzugreifen. Und das nicht nur, weil er genau wusste, dass Staynair ihm nicht für dieses Eingreifen danken würde. Merlin wusste sehr wohl, dass er bestens damit leben könnte, sich den Unmut des Erzbischofs zugezogen zu haben − wenn Staynair nicht auch in dieser Hinsicht voll und ganz recht hätte.
Und es ist noch nicht einmal so, dass er sich das reiflich überlegt hätte, ging es Merlin durch den Kopf. Genau so ist er eben − genau das ist er. Reiner Instinkt. Na ja, Instinkt und Gottvertrauen.
Staynair erreichte das Gitter, das den Altarraum vom Rest des Kirchenschiffes abtrennte, öffnete das kleine Gatter − es war vermutlich das erste Mal seit mindestens einem Jahrzehnt, dass nicht einer
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