Codename Merlin - 3
Geheimnisse anderweitig nutzen können − und besser.
»Sie haben nach mir geschickt, Madame?«
Hauchzarte Röcke raschelten, flüsternd strich Seide über satinzarte Haut, als Ahnzhelyk sich in einer anmutigen Bewegung vom Fenster abwandte. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters umgab sie immer noch eine Aura der Sinnlichkeit. Sie war sich in einer Art und Weise ihrer eigenen Leidenschaftlichkeit bewusst, die keine jüngere Frau ihr hätte gleichtun können. Stets wirkte sie, als sei sie völlig außerstande, sich ohne Anmut und Grazie zu bewegen, selbst wenn sie es bewusst darauf anlegen wollte, und in den Augen der schlicht und reizlos gekleideten Dienerin im Eingang blitzte etwas auf, was vielleicht Neid sein mochte.
»Ja, Ailysa«, erwiderte Madame Ahnzhelyk. »Bitte komm herein.«
Die Höflichkeit, die Ahnzhelyk selbst ihrer Dienerschaft entgegenbrachte, war völlig natürlich und instinktiv, und doch stellte sich nie die Frage, wer die Herrin war und wer die Dienerin. Sofort befolgte Ailysa den höflich vorgebrachten Befehl; ihr Nähzeug in der Hand trat sie ein und schloss die Tür hinter sich.
»Ich fürchte, es gibt sogar mehrere Dinge zu reparieren«, erklärte Ahnzhelyk und hob kaum merklich die Stimme, als die Tür geschlossen war.
»Selbstverständlich, Madame.«
Das Schloss schnappte zu, und Madame Ahnzhelyks Gesichtsausdruck veränderte sich deutlich. Jegliche Spur ruhiger, eleganter Überlegenheit schwand, und ihre Miene schien sich zu verfinstern, als sie die Hände ausstreckte. Einen Augenblick lang schaute Ailysa sie nur schweigend an, und auch sie kniff die Lippen zusammen.
»Ja«, sagte Ahnzhelyk leise, ergriff die Hände ihrer Dienerin und drückte sie fest. »Jetzt habe ich die Bestätigung erhalten. Übermorgen, eine Stunde nach Sonnenuntergang.«
Scharf sog Ailysa die Luft ein, und ihre Finger verkrampften sich um Madame Ahnzhelyks Hände.
»Wir wussten, dass es so kommen würde«, sagte sie leise, und auch ihre Stimme hatte sich verändert. Der charakteristische Akzent der niederen Klassen verschwand, nun sprach sie mit der klaren, fast fließenden Diktion, wie sie in den exklusivsten Mädchenpensionaten der Tempel-Lande gelehrt wurde, und eine kaum merkliche Veränderung ihrer ganzen Körperhaltung betonte diesen Wandel noch.
»Ich hatte immer noch gehofft …«, erwiderte Ahnzhelyk, und in ihren Augen schimmerten Tränen. »Es musste doch irgendjemanden geben, der dafür sorgen könnte, dass man mit ihm Milde walten ließe.«
»Wer denn?« Ailysas Blick wirkte nun härter als der Ahnzhelyks, und Tränen waren darin auch nicht zu erkennen. Zugleich wirkte sie auch deutlich zorniger. »›Der Kreis‹ konnte das unmöglich tun. Was auch immer ich gewollt haben mag, ich habe das gewusst, und ich wusste auch warum. Und wenn die nichts ausrichten konnten, wer sonst hätte es denn wagen sollen? Seine eigene Familie − selbst sein eigener Bruder! − haben das Urteil entweder bestätigt oder sich mit der Begründung der ›fortbestehenden persönlichen Verbundenheit mit ihm‹ enthalten.« Sie schaute Ahnzhelyk an, als wolle sie auf den blitzsauberen Holzboden des Gemachs spucken. »Diese Feiglinge! Das sind doch alles Feiglinge!«
Kurz drückte Ahnzhelyk ihr die Hände noch fester, dann ließ sie sie los und legte ihr stattdessen einen Arm um die Schulter.
»Es war der Großinquisitor«, sagte sie. »Niemand hat es gewagt, sich ihm zu widersetzen − vor allem nicht nach dem, was die Charisianer der Invasionsflotte angetan haben … und nachdem Cayleb Staynair ihn zu seinem Nachfolger bestimmt hat und Staynair dem Großvikar dieses entsetzliche Schreiben hat zukommen lassen. Der ganze Rat ist verängstigt, ob die das nun zugeben oder nicht, und Clyntahn ist fest entschlossen, denen das Blut zu verschaffen, nach dem die alle gieren.«
»Versuch nicht, deren Handeln zu rechtfertigen, Ahnzhelyk«, sagte Ailysa leise. »Versuch nicht einmal, sein Handeln zu rechtfertigen.«
»Ein schlechter Mensch war er nie«, gab Ahnzhelyk zurück.
»Nein, kein schlechter Mensch, nur korrupt.« Noch einmal atmete Ailysa tief durch, und einen winzigen Moment lang zitterte ihre Unterlippe. Dann schüttelte sie heftig den Kopf; es wirkte fast harsch. »Sie sind alle korrupt, und genau deswegen konnte sich auch niemand für ihn einsetzen. Die Heilige Schrift sagt, jeder wird ernten, was er sät, und er hat nie irgendetwas gesät, was stark genug gewesen wäre, diesem Sturm zu
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