Codewort Geronimo - der Augenzeugenbericht zum Einsatz der Navy-SEALs gegen Osama bin Laden
den Piloten im Cockpit verbunden. In der Wüste von Nevada hatten sie geübt, den Hubschrauber schräg zu halten, damit die Scharfschützen aus den offenen Türen freies Schussfeld hatten. So wollten sie es auch heute Abend machen.
Noch 30 Sekunden.
Razor 2 hielt sich in 15 Metern Höhe links hinter Razor 1. Vor ihnen ragte das quadratische Haupthaus auf – und die hohe, im Dreieck verlaufende Mauer, die das Anwesen von der unbefestigten Straße an der Vorderseite und den Feldern trennte, die sich dahinter erstreckten.
100 Meter vom Hauptgebäude entfernt kletterte Razor 1 auf neun Meter Höhe. Der Hubschrauber zog die Nase hoch und steuerte das Dach des Haupthauses an.
Die Piloten stellten erschrocken fest, dass der schachtelartige Aufbau auf dem Dach viel höher war als erwartet – statt 90 Zentimeter fast anderthalb Meter. Die Piloten hatten eigentlich direkt auf dem Dach heruntergehen wollen, doch im Stockdunklen hatten sie Bedenken. Die Mauer sah zu hoch aus. Der Pilot hielt den stampfenden Hubschrauber zwei Meter über dem Dach und schaffte es, ihn zu stabilisieren.
In der offenen Luke zögerte Frank Leslie eine Sekunde. Durch seine Nachtsichtbrille sah er das Dach, doch er wusste aus Erfahrung, dass sich Entfernungen elektronisch nur schwer einschätzen ließen. Er legte den Kopf schief und schielte unter dem Nachtsichtgerät durch. Er wusste, dass der Hubschrauber auf der Stelle schwebte und dass sie sich über dem Dach befanden, offenbar oberhalb des dreiseitigen Aufbaus. Er konnte die Lage nicht erst mit dem Cockpit diskutieren. Er sprang und seine SEALs folgten ihm und warfen sich in die limettengrüne Leere.
Mit einer Serie dumpfer Aufschläge landeten sie auf dem Dach. Unter dem Gewicht ihrer Ausrüstung setzten manche der Angreifer ziemlich hart auf. Sie robbten bis zum Rand des Daches und ließen sich auf den Innenhof des zweiten Stocks hinunter.
Während Razor 1 über dem Haupthaus schwebte, flog Mel Hoyle an Bord von Razor 2 in neun Metern Höhe langsam um das Anwesen herum. An der Spitze der dreieckigen Einfriedung ging Razor 2 in Schwebeflug über. Der einzige Weg aus den Gebäuden waren die nach Süden ausgerichteten Fenster und Türen, die in diesem Winkel lagen. Razor 2 war in Position. Die Türen waren gedeckt. Mel hatte dafür zu sorgen, dass niemand die Gästequartiere verließ oder betrat. Wie schon an Bord der Bainbridge hielt er nach dem Primärschützen Ausschau, doch er war ausreichend bewaffnet und bereit, das ganze Grundstück unter Feuer zu nehmen, damit sich dort ja nichts rührte.
An Bord von Razor 2 hatten sich Mel und der Primärscharfschütze gleich an der Steuerbordseite des Flugdecks positioniert. Der Schütze hielt ein langläufiges M-4-Gewehr im Arm und saß im Schneidersitz neben der offenen Tür. Mel lehnte wie ein Obmann über ihm. Aus dieser Position konnte er das Feuer lenken und mit dem Piloten sprechen.
Durch die offene Steuerbordluke sahen die Angreifer an Bord von Razor 2, dass Razor 1 jetzt über dem Dach schwebte. Razor 2 hatte Anweisung, 15 oder 20 Sekunden zu warten und dann auf dem Dach des Gästehauses zu landen. Im Kampfeinsatz können 20 Sekunden eine Ewigkeit sein.
Während Razor 2 an der Mauer entlangflog, wehte Landluft in die Kabine. Mel sah auf dem großen, abgezäunten Gelände links unten drei Kühe herumlaufen. Um sie herum huschten kleine Schatten. Er hob seinen Sucher ans Gesicht und nahm sie ins Visier: Es waren Hühner. Im starken Abwind des Hubschraubers flatterten die Vögel hilflos um die nervösen Kühe herum. Dutzende, ja, Scharen von Hühnern rannten hin und her. Ein paar gerieten unter die Hufe zweier panischer Milchkühe, die so weit vom Helikopter weggaloppierten, wie sie konnten. Das sah durchaus komisch aus, doch niemandem war zum Lachen zumute.
Direkt unter Razor 2 ging im Gästehaus das Licht an. Vor einem Fenster bewegte sich ein Schatten und dann noch einer. Schließlich öffnete sich eine Tür. Zwei Menschen drängten sich im Türrahmen. Einer trug ein AK-47-Sturmgewehr. Osamas Kurier war gerade aus einem erleuchteten Zimmer in die mondlose Nacht hinausgetreten und konnte nichts sehen. Hinter ihm, auf dem Hauptgebäude, befand sich Razor 1, vor Blicken abgeschirmt durch das Gästehaus und eine weitere Mauer. Über sich konnte er entweder nichts erkennen oder er schaute nicht hin. Andernfalls hätte er den Stealth Hawk gesehen und vielleicht einen Blick auf die beiden Zielfernrohre erhascht, die jetzt auf ihn gerichtet
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