Codewort Rothenburg
und umgehend zu einer Besprechung im Fall der Tötung von Dora Zegg in sein Büro in der Meineckestraße 10. Es liegen Erkenntnisse vor.
Daut kratzte sich verwundert am Kopf. Obwohl er die Nachricht drei Mal las, blieb sie rätselhaft. Er nahm das Abteilungs- und Dienststellenverzeichnis des RSHA aus der Schublade, blies den Staub vom Deckblatt und schlug es auf. Als er die Abteilung VI gefunden hatte, war er verwirrter als zuvor. Was hatte die Auslandsabwehr des Sicherheitsdienstes mit seinem Fall zu tun? Und dann noch dieser Befehlston: »Dringend« und »umgehend«. Dabei stammte die Nachricht von einem niedrigeren Dienstrang. Dieser Untersturmführer hatte ihm gar nichts zu befehlen. Für einen Moment überlegte Daut, die Nachricht einfach zu ignorieren. Wenn dieser Schwarz etwas von ihm wollte, sollte er doch herkommen. Andererseits hatten sie in diesem Fall so gut wie nichts in der Hand. Warum sollte er sich nicht anhören, was der Mann ihm mitzuteilen hatte. Außerdem täte ihm ein bisschen frische Luft gut. Daut stand auf, nahm seinen Hut vom Haken und verließ das Büro, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Wie er die Kooperationsbereitschaft der Kollegen von der Sitte einschätzte, war Rösen eine Weile mit den Nachforschungen beschäftigt. Bis dahin wäre er längst zurück.
Als er das Dienstgebäude verließ, atmete Daut tief durch. Heute war seit Langem der erste Tag, an dem es nicht unerträglich schwül war. Die Luft war sauber und frisch, als wäre die Stadt über Nacht einer Generalreinigung unterzogen worden. Er verwarf den Gedanken, die U-Bahn zu nehmen. An so einem schönen Tag schien es ihm ein Frevel, unter der Erde zu verweilen. Rösen hatte den alten P4 um die Ecke in der Wallstraße abgestellt. Daut liebte das Auto, auch wenn es nicht zu den Meisterwerken der Ingenieurskunst zählte. Es gab schnellere und bequemere Fahrzeuge, aber die Höchstgeschwindigkeit von fünfundachtzig Stundenkilometern reichte ihm völlig. Sie benutzten nur selten die neue Autobahn, meistens bewegten sie sich in der Stadt. Als er den Anlasser mit dem Fuß betätigte, sprang der Wagen sofort an. Er tätschelte anerkennend über das Lenkrad, legte mit einem leichten Krachen den Gang ein und fuhr los. Er kurbelte das Fenster herunter und legte den Unterarm auf den Rahmen. Der Wind kühlte seinen Kopf. Von der Wallstraße bog er links in »die Linden« ab und gab Gas. So zügig konnte man früher nie durch Berlin kommen. Er erinnerte sich noch, wie sich der Verkehr in den Jahren vor dem Krieg regelrechte aufstaute. Manchmal stand man sogar für ein paar Minuten am Brandenburger Tor, das er jetzt rasch durchquerte. Auf der Ost-West-Achse gab er Gas. Die Nadel des Tachometers zitterte bei der Sechzig-Kilometer-Marke. Über den Kleinen und den Großen Stern fuhr er Richtung Charlottenburg. Am Straßenrand waren Arbeiter damit beschäftigt, Girlanden an den neu errichteten Laternen zu befestigen. Es stand wohl ein Staatsbesuch bevor. Als er den Tiergarten passiert hatte, schaute er auf die Uhr. Kurz nach eins hatte dieser Schwarz in seiner Dienststelle angerufen. Jetzt war es noch nicht einmal zwei Uhr. Sollte er doch noch ein bisschen schmoren! Er bog am Knie links in die Hardenbergstraße ein und parkte den Wagen an der Ecke zur Knesebeckstraße. Ein kleiner Spaziergang war an so einem Tag genau richtig. Er mochte Charlottenburg. Hier hatte er das Gefühl, noch im alten Berlin zu sein, das ihn so fasziniert hatte. Was war er damals doch für ein Landei, als er sich 1935 um eine Stelle in der Reichshauptstadt bewarb. Was heißt bewarb! Er selber wäre nie auf die Idee gekommen, denn er fühlte sich wohl als Kriminalassistent, und die kleine Kreisstadt kam ihm, dem Sohn eines Kötters, wie der Nabel der Welt vor. Es erstaunte ihn, dass er es überhaupt so weit gebracht hatte. Ohne Kolbergs Hilfe hätte er das nie erreicht. Richard Kolberg. Daut lächelte beim Gedanken an den Kameraden, der sich schuldig fühlte an seiner Kriegsverletzung. Er hatte den Befehl gegeben, aus dem Graben zu stürmen. Fast alle anderen starben an diesem Tag. Daut überlebte. Nur die linke Hand war nicht zu retten. Als er nach drei Tagen im Lazarett aus dem Koma erwachte, erinnerte er sich an nichts. An seinem Bett saß sein Leutnant Richard Kolberg, der seit dem Sturmbefehl ein gebrochener Mann war. Richard kümmerte sich um ihn. Er brachte ihn zur Polizeischule, und er besorgte ihm seine erste Stelle. Daut liebte seine Arbeit von Anfang an. Er
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