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Codewort Rothenburg

Codewort Rothenburg

Titel: Codewort Rothenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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an ihm vorbei aus dem Raum.
    »Ich glaube, ich bin krank. Fieber vermutlich. Ich gehe nach Hause.«

Siebenundzwanzig

    »Und?«
    »Er wird nervös, es dauert ihm alles zu lange.«
    Erna stellte die Einkaufstasche neben den Schirmständer an der Garderobe. Gustav bemerkte, dass sie älter aussah als noch ein paar Wochen zuvor. Die ständige Belastung zerrte an ihrer Gesundheit. Sie schlief kaum noch eine Nacht durch. Dabei war im Moment alles ruhig in der Stadt. Besser gesagt, in der Luft über der Stadt. Das würde sich ändern. Bald nähmen die Engländer auch Berlin ins Visier wie zuvor Mönchengladbach oder die Städte an der Ruhr. Es würde nicht mehr bei vereinzelten Angriffen auf Tempelhof bleiben.
    Gustav Neeb stand auf und half seiner Frau aus dem Mantel.
    »Ich kann den Jungen verstehen. Warum brauchen die diesmal auch so lange? Früher war es in drei, vier Tagen erledigt.«
    Erna seufzte.
    »Du weißt es doch selbst, mein Lieber, alles wird komplizierter und die Angst immer größer. Jeder ist vorsichtig, sieht sich einmal mehr um, ob auch ja kein Lauscher oder Späher hinter ihm steht. Wir können froh sein, dass überhaupt noch jemand das Risiko auf sich nimmt.«
    Gustav streichelte Erna über den Arm. Sie war so zerbrechlich und doch so stark. Sie würde sich niemals beugen. Er nahm die Tasche vom Boden und trug sie in die Küche.
    »Manchmal frage ich mich, ob der Junge das überhaupt verdient hat. Gibt es nicht andere, die viel mehr getan haben als er?«
    »Gustav! Wie kannst du so etwas sagen?
    »Ich weiß, was du denkst. Aber habe ich nicht recht?«
    Insgeheim hatte auch Erna Zweifel. Immerhin setzten eine Handvoll Menschen ihr Leben aufs Spiel, ohne etwas über denjenigen zu wissen, dem sie halfen. Es reichte ihnen, dass sich Erna und Gustav Neeb für ihn verbürgten. Damit trugen sie die Verantwortung. Aber sie konnten nicht anders, er war ihr Kind. Schon als Kleinkind tobte er durch ihre Wohnung. Damals ahnte niemand, welches Schicksal dieser Blondschopf mit seinem strahlenden Lächeln haben sollte. Er kam 1916 mitten im Krieg zur Welt. Der Vater starb 1918 bei Ypern im Gas, gab sein Leben für Deutschland und den Kaiser. Bekam das Eiserne Kreuz 1. Klasse. Da stand seine Mutter Anna alleine mit dem Kleinen da, mitten in all dem Elend. Was sollte sie anderes tun, als sich an ihre Familie zu halten? Und die Familie half - unter einer einzigen Bedingung, die der Mutter nur gerecht schien. Also ging Anna in die Synagoge und sprach mit dem Rebbe, der sich zunächst weigerte. Die Zeremonie habe am achten Tag nach der Geburt stattzufinden, nicht nach zwei Jahren. Aber Anna argumentierte, verwies auf den Krieg, auf die Umstände.
    »War der Knabe kränklich?«, fragte der Rebbe.
    Anna sah ihre Chance.
    »Ja, ja, er war immer schwach, deshalb ging es auch nicht«.
    Es war nicht wahr, doch Lügen sollten von nun an zu seinem Leben gehören. Zwei Wochen später trug man Annas Sohn in das Bethaus, das seine Mutter viele Jahre nicht mehr besucht hatte. Ihr Mann war Katholik, und ihr selbst war Religion egal. Deshalb wurde der Junge direkt nach der Geburt zum Entsetzen von Annas Eltern getauft. Hätte sein Vater vor Ypern nicht zur falschen Zeit im falschen Graben gelegen, wäre er ein frommer Christ geworden. So aber stand jetzt, als sie ihn festlich gekleidet hereintrugen, die Gemeinde auf und rief: »Gesegnet, der da kommt!«
    Der Mohel überprüfte mit einem Blick, ob die erforderlichen zehn Männer anwesend waren. Er ordnete seine Werkzeuge, und nachdem alles so abgelaufen war, wie vorgeschrieben, tat er sein Werk. Zum Erstaunen aller hielt der Kleine still. Nicht ein Laut kam aus seiner Kehle, als das Messer seine Vorhaut durchschnitt. Nur eine einzige Träne blitzte im linken Auge. Dem Schlusssegen der Zeremonie sollte er zumindest in seinen ersten Wünschen nie nachkommen: »Er wachse heran zur Tora, zur Chuppa und zu guten Werken.«
    Die Großeltern mütterlicherseits starben bald, und es gab keinen Grund mehr, jüdische Traditionen zu pflegen. Im Prinzip vergaßen Anna und ihr Sohn, dass die Berit Mira überhaupt stattgefunden hatte. Nur in seltenen Augenblicken erinnerte sich der Junge vage an einen stechenden Schmerz, der ihm fast das Bewusstsein geraubt hatte. Als er in die Schule kam, schickte ihn seine Mutter in den katholischen Religionsunterricht. Sein Vater, ihr Mann, den sie immer noch liebte und vermisste, hätte es so gewollt. Mit ihrem Sohn sollte die jüdische Tradition der Familie

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