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Codewort Rothenburg

Codewort Rothenburg

Titel: Codewort Rothenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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glaubst also die Schauergeschichten von diesen Neebs und den anderen Verrückten, die bei ihnen ein- und ausgehen?«
    Luise blieb abrupt stehen und starrte ihn an. Für einen Moment fürchtete Daut, sie würde sich umdrehen und aus der Wohnung rennen. Stattdessen griff sie sich mit den Händen ins Haar und begann zu weinen. Die Tränen rannen ihr wie ein Sturzbach aus den Augen, und aus ihrem Mund kam ein erschütternder Laut, wie ihn Daut noch nie gehört hatte. Es war ein Klagen, das sich aus tiefster Seele Bahn brach. Es kam aus einem Teil von Luises Wesen, der bis zu diesem Moment verschlossen in ihr gewesen sein musste und jetzt in einer Sekunde zutage trat. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, sank auf die Knie und bettete den Kopf in seinen Schoß. Ihr Oberkörper bebte vom Schluchzen, das in konvulsiven Stößen aus ihr herausdrang. Ihre Arme hatte sie seitlich weit von sich gestreckt, und sie versteiften, als Daut versuchte, ihre Hände an sich zu ziehen. Hilflos wartete er und spürte, wie seine Hose von den Tränen durchweicht wurde. In einer fast mechanischen Bewegung streichelte er ihr über den Kopf. So, wie seine Mutter es gemacht hatte, wenn er seinen Kummer in ihrem Schoß ausgeweint hatte. Endlich, nach Minuten, ebbte das Schluchzen ab. Luise nahm die Arme an den Körper und zog sich in einer langsamen Bewegung nach oben, die ihre Kraft zu übersteigen schien. Sie setzte sich unmittelbar neben Daut, nahm seine rechte Hand in ihre und legte ihren Kopf an seine Schulter.
    »Ich habe gestern mit eigenen Augen gesehen, was Polizisten wie du in der Uniform, die in unserem Schrank hängt, tun.«
    Und dann erzählte sie. Sie berichtete von allem, was sie auf der Leinwand in Neebs Wohnzimmer gesehen hatte, schilderte jede einzelne Szene, die sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Sie ließ keine Grausamkeit aus und keine Verzweiflung. Sie sprach über das feixende Lachen der Täter und das entsetzte, stumme Schreien der Opfer. Sie nannte alles beim Namen. Nannte die Mörder Mörder und die Opfer Opfer. Sie erzählte ohne Pause. Und als sie endete, war die Dämmerung in schwarze Nacht übergegangen. Daut schwieg. Es gab nichts zu sagen. Er kannte keine Antworten. Und er wusste keinen Ausweg. Er nahm seine Frau in den Arm und wiegte sie wie ein Kind.

Neunundzwanzig

    Die Tage flogen an Daut vorbei. Er fühlte nichts, nahm nichts wahr. Er tappte durch sein Leben, schaute nicht nach rechts und nicht nach links. Er sprach nur wenig mit seiner Frau, und wenn, dann nicht über den Abend, der alles verändert hatte. Was gab es da auch noch zu reden? Es war alles gesagt. Worte brachten sie nicht weiter. Sie mussten Entscheidungen treffen, Lösungen finden, vor denen er sich fürchtete. Was auch immer er tat, er würde sein bisheriges Leben verlieren, entweder den einen oder den anderen Teil. Einfach so weitermachen, ging nicht. Luise konnte es nicht tolerieren, und auch er selbst nicht. Er war Polizist geworden, weil er auf der richten Seite stehen und gegen die falsche Seite kämpfen wollte. So einfach war das. Seine Naivität setzte den Glauben an das Absolute voraus, sonst gäbe es diesen Dualismus nicht. Er hatte nie darüber nachgedacht, aber er spürte, dass er seinen Kinderglauben verlor. Gutes konnte böse sein. Konnte auch Böses gut sein? Wie erkannte man überhaupt noch, was richtig war? Warum sagte es ihm keiner? Wie gerne wäre er geflohen. Nach Hause, auf den Hof des Vaters, wo alles klar war. Da gab es keine Falschheit. Das Leben war Arbeit, und Arbeit war Vergnügen. Die Entscheidungen des Bauern wurden andernorts vorbestimmt. Wenn es regnete, mistete man den Stall aus, und wenn die Sonne schien, machte man Heu. Ein Blick zum Himmel, und man wusste, was zu tun war. Daut wünschte sich, dass man auch ihm die Entscheidungen abnähme. Dass alle Fragen plötzlich beantwortet seien, alle Konflikte gelöst. Eine kindliche Hoffnung, das war ihm klar. Luise war anders. Sie war robuster als er. Sie entschied.
    Daut ließ sich durch den Tag treiben, während alle anderen verfügbaren Kriminalbeamten Berlins mit fanatischer Wut dem S-Bahn-Mörder hinterherjagten. Auch auf Dauts und Rösens Schreibtisch lag jeweils ein halber Meter Akten. Sie wühlten sich durch Papier, lasen Zeugenaussagen und schauten sich Fotos an, die sie oder andere schon dutzendmal studiert hatten. Immer auf der Suche nach dem einen winzigen Hinweis, den man bisher übersehen hatte. Wie viele Kollegen hatten schon das

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