Codewort Rothenburg
enden. Dieser Entschluss stand fest. Aber da hatte sie die Rechnung ohne die Nazis gemacht. Plötzlich war ihr Sohn, der katholische Junge, ein Halbjude. Er, der nichts wusste von den religiösen Wurzeln seiner Familie. Er, der keine Ahnung hatte von den Riten. Er, der regelmäßig in die Kirche ging und sich oft genug mit Gustav stritt, der ein konsequenter Atheist war. Gustav, dessen Rolle irgendwo zwischen Vater und Großvater lag, während Erna ihm nach Annas Tod die Mutter ersetzte. Da war er sechzehn Jahre alt.
Beide, Gustav wie Erna, waren entschlossen, ihn nicht zum Opfer eines Wahns werden zu lassen, der aus einer Religion plötzlich eine Rasse machte. Sie waren befreundet mit Doktor Weberknecht, Chirurg an der Charité. Er bescheinigte, dass der Knabe als Kind unter einer Vorhautverengung gelitten hatte, die er, Professor Dr. Weberknecht höchstselbst, im Frühjahr 1918 operativ beseitigt habe. Schwester Edelgard, die Weberknecht in tiefer, wenn auch unerfüllter Liebe verbunden war, bezeugte den Vorgang an Eides statt. Leider, so schrieb der Professor auf die entsprechende Bescheinigung, wären die Krankenakten in den revolutionären Wirren des Herbstes 1918 verloren gegangen. Doch was machte das schon, angesichts so genauer und zudem echter Bezeugungen. Und es ging ja auch alles gut, selbst als Albert sich eine Karriere als Offizier in den Kopf setzte, obwohl Gustav mit Engels- und mit Teufelszungen geredet hatte, um das zu verhindern. Erna wusste, worum es ging. Der Junge tat es seinem Vater zuliebe, an den er keine Erinnerung hatte als ein verblasstes Foto, das ihn in Uniform zeigte. Dabei hasste Albert die Nazis. Nicht nur wegen seiner persönlichen Geschichte, sondern weil er mit offenen Augen durch die Welt ging. Er sah das Leid derjenigen, die nicht über Beziehungen verfügten wie Gustav und Erna. Er war sensibilisiert durch die Bedrohung, der er ständig ausgesetzt war - Papiere hin und Bescheinigungen her. Er war ein vorsichtiger Mensch, der genau überlegte, was er sagte oder tat. Und er war ein Intellektueller. Das machte ihn verdächtig bei den Kameraden, und bald gab es Gerüchte, er sei andersherum . Er fühlte, wie die Bedrohung wuchs, und sprach mit Erna über seine Ängste. Deshalb verstand sie auch, was geschehen und warum er einen Augenblick unvorsichtig geworden war. In dieser Sekunde war alles aus dem Ruder gelaufen.
Der Junge vertraute ihr und Gustav. Obwohl längst ein erwachsener Mann, hatte er noch den Kinderglauben, dass alles gut werde.
Erna Neeb war sich da nicht mehr so sicher.
»Manchmal denke ich, sie haben uns schon im Visier.«
»Irgendwann wird das passieren, Erna.«
»Ich weiß, aber es darf noch ein bisschen dauern.«
Dabei lächelte sie, und eine Welle der Zärtlichkeit durchflutete Gustav. Sie waren seit achtunddreißig Jahren ein Paar, aber noch immer wärmte ihn ein einziger Blick von ihr.
»Hast du einen konkreten Verdacht?«
»Nein, aber ein ungutes Gefühl. Sie sind hinter ihm her, und ich fürchte, sie kommen ihm gefährlich nahe.«
»Ist nicht Luises Mann Polizist? Vermutlich könnten wir von ihm Genaueres erfahren.«
»Ja, aber ich will sie nicht aushorchen. Sie soll selbst entscheiden, was sie uns erzählt und was nicht.«
»Glaubst du nicht, dass sie sich längst entschieden hat, auf welcher Seite sie steht? Hast du ihren Blick gestern Abend nicht gesehen?«
Achtundzwanzig
Wie gerne wäre Axel noch einmal nach draußen gegangen. Die Luft in der Wohnung war zum Schneiden. Seine Kehle wie ausgedörrt. Luise hatte für die Kinder Limonade gemacht. Wo hatte sie bloß die Zitronen organisiert? Oder war es nur Zitronenersatz? Er wollte es nicht probieren. Das süße Getränk konnte seinen Durst nicht stillen. Eine Molle und ein Korn wären jetzt genau das Richtige. Die Wacholderflasche stand noch im Schrank. Er wusste, was Luise sagen würde. Vielleicht sollte er genau deshalb einen Schluck nehmen, am besten direkt aus der Flasche. Das hasste sie und würde losschimpfen. Endlich reden. Alles wäre besser als dieses elende Schweigen. Nur das Nötigste hatte sie heute mit ihm gesprochen. Sie hatte ihn gefragt, warum er so früh vom Dienst gekommen sei, ob es keine Mörder mehr zu jagen gäbe. Walter hatte verlegen aufgeblickt.
Jetzt waren die Kinder im Bett. Luise saß am offenen Fenster und stopfte einen Strumpf. Mit gebeugtem Oberkörper, als verlange die Arbeit ihre volle Konzentration. Daut hielt sich die Zeitung vors Gesicht, ohne zu
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