Codex Alera 06: Der erste Fürst
neigte den Kopf dabei etwas mehr, als nötig gewesen wäre. »Sehr wohl«, sagte sie. »Hoheit.«
19
In den folgenden Stunden hörte Isana, wie die Vordkönigin die gesammelte militärische Macht des Reichs angriff und erbarmungslos darüber herfiel.
Sie verließ den schimmernden grünen Raum unter der Erde zu keinem Zeitpunkt. Stattdessen starrte sie einfach nach oben, ins glimmende Licht des Kroatsch , und kommentierte für Isana den Verlauf der Schlacht. In sachlichem, gemessenem Ton berichtete die Königin von den Ergebnissen der Manöver und Attacken.
Isana hatte schon genug vom Krieg mit den Vord gesehen, um die Worte gedanklich in Bilder schieren Grauens zu übersetzen. Sie stand neben Araris und sah immer wieder nach, um sicherzugehen, dass seine Nase und sein Mund noch freilagen. Seine Haut wirkte unter der Oberfläche des Kroatsch nicht wund oder verbrannt – noch nicht. Aber es war schwer, darüber Gewissheit zu erlangen. Es war, als würde sie ihn durch gefärbtes, verformtes Glas von besonders schlechter Qualität ansehen.
»Ich finde das alles … wie nennt man es? Ich glaube, was ich meine, ist eine Form von Zorn, aber keine besonders starke Ausprägung davon«, sagte die Vordkönigin nach mehreren Augenblicken des Schweigens. »Es gibt einen Ausdruck dafür. Ich finde die aleranische Gegenwehr … lästig.«
»Lästig?«, fragte Isana.
»Ja«, sagte die Königin und sah weiter starr nach oben. Sie zeigte mit einem ihrer krallenbewehrten Finger auf das Kroatsch . »Da. Die Arbeiter und Zivilisten fliehen aus der Stadt. Und doch kann ich sie nicht erreichen, nicht ganz. Ihre Vernichtung würde das Ende dieses Krieges so gut wie besiegeln.«
»Sie sind schutzlos«, sagte Isana leise.
Die Vordkönigin seufzte. »Wenn das nur wahr wäre! Fast die Hälfte der Bevölkerung als verzichtbare Beschützer einzuteilen ist eine unnötige Verschwendung. Es wird am Ende keinen Unterschied machen, aber im Augenblick …« Sie hob eine Hand und ließ sie wieder sinken, eine Geste, die irgendwie ihren Ärger, ihre vorübergehende Gereiztheit und das Schicksal ganz Aleras in derselben imaginären Handvoll umfasste. »In dieser Welt hat schon lange vor meinem Erwachen ein erbitterter Wettstreit geherrscht.«
»Das da sind Frauen«, sagte Isana, immer noch leise. »Die Alten und Kranken. Kinder. Sie stellen keine Bedrohung für dich dar.«
Die Augen der Vordkönigin glitzerten seltsam. »Die Frauen können mehr von euch hervorbringen, und das darf nicht geduldet werden. Die Alten und Kranken … Vielleicht wäre es von Vorteil, wenn ich ihnen weiterhin gestatte, die Vorräte eures Volks aufzuzehren; aber ihre Erfahrung und ihr Wissen könnten das wieder ausgleichen, und dafür würden wir vielleicht einen hohen Preis zahlen.«
»Und die Kinder?«, fragte Isana, wobei ihr Tonfall unwillkürlich kälter wurde. »Welchen Schaden können die euch zufügen?«
Die Lippen der Vordkönigin verzogen sich zu einem langsamen, bitteren Lächeln. »Eure Kinder sind in der Tat keine Bedrohung. Heute noch nicht.« Sie wandte den Blick von der Decke ab und starrte Isana eine Weile an. »Du hältst mich für grausam.«
Isana sah von Araris’ schlaffem, bewusstlosem Gesicht zur Vordkönigin. »Ja«, zischte sie.
»Und doch habe ich dein Volk vor eine Wahl gestellt«, sagte die Königin. »Ich habe ihm die Gelegenheit gegeben, sich zu ergeben, die Niederlage hinzunehmen und am Leben zu bleiben – was mehr ist, als dein Volk mir je angeboten hat. Du hältst mich für grausam, weil ich eure Kinder jage, Großmutter, aber deine Leute haben meine gejagt und Zehntausende von ihnen getötet. Dein Volk und meines gleichen sich am Ende doch. Wir überleben, und das auf Kosten anderer, die auch nichts wollen als überleben.«
Isana schwieg eine ganze Weile. Dann fragte sie sehr leise: »Warum nennst du mich so?«
Die Vordkönigin schwieg ebenfalls einige Zeit. Dann antwortete sie: »Es scheint mir passend, soweit ich etwas von diesen Dingen verstehe.«
»Warum?«, hakte Isana nach. »Warum solltest du Tavi als deinen Vater betrachten? Hältst du dich wirklich für sein Kind?«
Die Vordkönigin zuckte mit den Schultern, was bei ihr sehr unnatürlich wirkte. »Nicht in dem Sinne, den du meinst. Obwohl ich mir diejenigen, deren Blut verschmolz, um meines zu erschaffen, nicht ausgesucht habe. Genau wie du.«
»Warum sollte dir das wichtig sein?«, fragte Isana. »Warum sollte es dir etwas bedeuten, ob du mich auf eine unter
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