Codex Alera 06: Der erste Fürst
Kaserna war noch nicht abgeschlossen. Die Vord würden nicht mehr lange auf sich warten lassen – und genau das war der Grund, weshalb sie in dieses Zimmer gekommen war: Sie sollte in der Zeit, die ihnen vor Eintreffen des Feindes noch blieb, ein wenig Schlaf finden. Sie hatte seit Tagen nicht geschlafen.
Amara seufzte und streifte ihren gepanzerten Mantel ab. Wenn nur der Ältere Frederic, der jetzt stellvertretend als Wehrhöfer amtierte, nicht ausgerechnet Gargantenführer gewesen wäre! Die großen Tiere waren auf einem Wehrhof unübertroffen nützlich, aber sie stanken – nicht unangenehm, aber intensiv. Sie rochen sehr, sehr groß. Es war nicht die Art von Beimischung zur Raumatmosphäre, die man einfach ignorieren konnte.
Es sei denn – so vermutete sie zumindest –, man arbeitete jeden Tag mit Garganten.
Andererseits war Amara erschöpft. Sie legte ihre Waffen und ihre Rüstung neben dem großen, schlichten Bett ab und ließ sich mit einem Stöhnen darauffallen. Eine echte Matratze, bei den Elementaren! Sie hatte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe nicht mehr auf etwas anderem als auf einer Decke auf dem kalten Boden geschlafen. Aber sogar unter diesen Umständen konnte sie ihr Unbehagen nicht abschütteln. Es hatte sich sogar zu einem Gefühl regelrechter Unruhe gesteigert.
Amara setzte sich auf, hob ihren Stiefel aufs Bett und beugte sich darüber, um ihn aufzuschnüren. Sie packte den Griff des darin verborgenen Messers und rief nach Cirrus, damit er ihr seine Geschwindigkeit lieh, als sie es auf die scheinbar leere Fläche neben dem großen Kamin, keine sechs Fuß vor ihr, schleuderte.
Der Dolch wirbelte mit einem zischenden Surren durch die Luft, und Stahl traf in einem scharfen Klirren und unter dem Aufsprühen grüner Funken auf Stahl.
Amara warf sich über das Bett, ohne das Ergebnis ihres Wurfs abzuwarten. Sie packte noch in der Bewegung ihren Waffengürtel, zog ihren Gladius und hielt den Gürtel locker in der noch schmerzenden linken Hand. Die metallbesetzte Scheide, die nahe am Ende des Gürtels neben der Schnalle baumelte, würde die wohl beste behelfsmäßige Waffe abgeben, die sie im Moment in dieser Unterkunft überhaupt auftreiben konnte. Sie schätzte den Abstand vom Bett zur Tür ab.
»Mach dir gar nicht erst die Mühe«, sagte eine Frauenstimme ruhig. »Du würdest sie nicht erreichen. Und ich kann dir nicht gestatten zu fliehen.« Ein windgewirkter Schleier fiel und enthüllte …
Es dauerte einen Augenblick, bis Amara Invidia Aquitania erkannte, und selbst dann tat sie es nur, weil sie die Chitinrüstung und die Kreatur an ihrer Brust schon einmal gesehen hatte. Das lange, dunkle Haar der Frau war verschwunden, auch ein Großteil der lilienweißen Haut, die scheckigen roten Brandnarben gewichen war. Ein Augenwinkel hing unter einer Narbe herab, aber ansonsten waren ihre Augen so wie früher, und ihr ruhiger, unbarmherziger Blick war erschreckend wie immer.
»Wenn du jetzt gehst«, sagte Amara in kühlem Ton, »entkommst du vielleicht, bevor die Placidas dich einholen.«
Invidia lächelte, was eine fürchterliche Wirkung auf die Narben in ihrem Gesicht hatte. Eine von ihnen platzte auf und blutete ein wenig. »Liebe Gräfin, mach dich nicht lächerlich. Sie wissen nicht, dass ich hier bin, ebenso wenig, wie du es gewusst hast. Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich nicht hergekommen bin, um dir etwas anzutun.«
Amara prüfte noch einmal den Abstand zur Tür.
»Ich werde es aber doch tun«, sagte Invidia, »wenn du irgendetwas Törichtes versuchst. Ich bin sicher, dass dir bewusst ist, wie wenig ich zögern würde dich zu töten, wenn du mich dazu zwingst.«
»So wenig, wie ich es tun werde, wenn ich dich töte«, antwortete Amara.
Invidias Lächeln wurde breiter. Das Blut lief über ihre Lippe und einen sehr weißen Zahn. »Forsches kleines Ding. Ich werde mit dir tanzen, wenn du es wünschst. Aber wenn wir das tun, bist du eine tote Frau, und das weißt du.«
Amara biss die Zähne zusammen und kochte vor Wut, weil die Frau – sollten sie doch die Krähen holen! – Recht hatte. Draußen im Freien, mit Bewegungsspielraum, hatte Amara durchaus Aussichten, einen Kampf mit Invidia zu überleben. Aber in diesem stinkenden Zimmer, umgeben von Stein? Sie würde schon tot sein, bevor ihr Schrei auch nur die nächste Wache erreichte. Es gab nichts, was sie hätte tun können, um etwas an dieser Tatsache zu ändern, und das verängstigte und erzürnte
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