Codex Alera 06: Der erste Fürst
wir alle hierbleiben, dann sterben wir auch alle«, sagte er, immer noch leise und mit Nachdruck. »Wenn ich gehe, besteht die Hoffnung, dass einige von uns überleben.« Er drehte die rechte Handfläche nach oben und sagte: »Gräfin.«
Amara biss sich auf die Lippen – und warf ihm den Stein zu.
Er fing ihn auf, zuckte zusammen und ließ die Schulter kreisen. Dann stellte er sich unter eines der Löcher und schaute hinauf. Die Decke war zehn Fuß oder noch weiter entfernt. »Hmm.«
Aria kämpfte sich schwankend auf die Beine. Sie ging zu Araris hinüber, bückte sich und formte mit verschränkten Fingern eine Räuberleiter. Araris zögerte einen Moment lang und stellte dann seinen gestiefelten Fuß in ihre Hände. »Eins«, zählte sie. »Zwei. Drei.«
Aria richtete sich mit elementarverstärkter Kraft auf und schleuderte Araris hoch, als wäre er ein kleiner Mehlsack. Er sauste mit gerade nach oben gestreckten Armen durch das Loch und rammte dann beide Ellenbogen hinunter, als er auf der anderen Seite war. Amara sah ihn mehrfach mit den Beinen strampeln, während er sich hochzog, und hörte eine neue Runde heulender Vordschreie.
Und dahinter, schwach, aber deutlich – Trompeten. Aleranische Legionstrompeten, die wieder und wieder und wieder zum Angriff bliesen. Feuerkugeln knisterten und dröhnten in der Nähe, und Amara sog scharf die Luft ein und setzte sich im Becken auf. »Habt ihr das gehört?«
»Die Legionen«, hauchte Aria. »Aber die ganze Horde liegt zwischen hier und Kaserna. Wie?«
»Tavi«, sagte Isana, und Stolz schwang in ihrer Stimme mit. »Mein Sohn .«
Sie schwiegen alle und lauschten dem fernen Klang der Trompeten und des Feuerwirkens. Beide hörten sich abwechselnd nahe und weit entfernt an. Minuten verstrichen zäh, und es tat sich nichts.
Dann schnappte die erschöpfte Fürstin Aria, die immer noch zusammengesunken unter den Löchern in der Decke stand, nach Luft, wich stolpernd zurück und schrie: »Vord!«
Und urplötzlich strömten ein halbes Dutzend Fangschreckenkrieger ins Nest.
52
Fidelias saß zu Pferde, hielt mit der erschöpften Legionsinfanterie Schritt und sah zu, wie sich der verzweifeltste militärische Angriff entfaltete, dessen Zeuge er je geworden war.
Der umhüllende Nebel machte die Sache schwieriger. Das Grüppchen Canimritualisten, das stets auf einer Höhe mit dem Kommandostab blieb, flüsterte und knurrte ständig vor sich hin. In gewissen Abständen schnitt sich einer der Canim mit dem Messer und schleuderte Blutströpfchen in die Luft. Die Tropfen verschwanden im Flug, vermutlich, um den nebligen Schleier aufrechtzuerhalten, der ihre genaue Stellung vor dem Feind verbarg.
Natürlich bedeutete das zugleich, dass Fidelias seine eigenen verdammten Truppen nicht mehr sehen konnte, sobald sie ein paar hundert Schritt entfernt waren. Sie hatten mehrere Kurierketten aufbauen müssen, um Signale mit den Einheiten auszutauschen, die außer Sichtweite des Kommandostabs vorgerückt waren. Sogar jetzt trafen gerade Signale ein: Angriff im Gange, Feind leistet geringen Widerstand . Anscheinend hatte die Vordkönigin ein paar aufmerksame Wächter unter ihrer schlafenden Brut hinterlassen – wahrscheinlich taten sie so, als ob sie schliefen. Wenigstens hätte Fidelias es so gemacht.
Die vordersten Reihen der Legionsinfanterie hatten den alten Wehrhof erreicht, und die erfahrenste Kohorte der Freien Aleraner gelangte zusammen mit den Schlachtkrähen der Ersten Aleranischen Legion ans Tor und an zusammengebrochene Mauerstücke.
»Jetzt«, sagte Fidelias zu dem Trompeter hinter ihm.
Der Mann hob seine Trompete und blies zum Angriff. Andere Trompeten in beiden Legionen nahmen dasselbe Signal auf, und das plötzliche Brüllen aus fast vierhundert Kehlen fiel in den Trompetenschall mit ein, als die beiden Angriffskohorten den alten Wehrhof stürmten, während der Rest der Legionen nachrückte, um sie zu unterstützen. Währenddessen stiegen Windströme hinter ihnen auf, und Gaius Octavian und die Ritter Aeris der Ersten Aleranischen Legion erhoben sich in die Luft.
Eine Sekunde später ertönte ein ohrenbetäubender Schrei, metallisch, fremdartig und äußerst feindselig. Er ließ Fidelias’ Atem stocken und lähmte einen Augenblick lang seine Glieder. Sein Pferd erschauerte und tänzelte nervös, so dass er beinahe aus dem Sattel geworfen wurde. Ringsum konnte er denselben Ausdruck von Entsetzen und Verwirrung auf den Gesichtern der Offiziere und einfachen
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