Codex Alera 06: Der erste Fürst
Augenblick …
Die Königin kreischte erneut vor Wut und warf sich in die Luft. Einen Moment lang dachte Tavi, dass ihre Windelementare noch immer in Auflösung begriffen wären und dass sie nicht genug haben würde, um zum Fliegen abheben zu können – aber dann sammelte sich plötzlich ein Strudel wie der eines kleinen Wirbelwinds unter ihr, schleuderte ihre eigene Brut durch die Gegend wie Spielzeug, und die Vordkönigin raste mit fürchterlicher Geschwindigkeit auf Tavi und Kitai zu. Eine Welle reinen Zorns pulsierte vor ihr durch die Luft, während sie geradewegs auf Kitai zuflog.
Kitai setzte einen neuen Pfeil mit Salzspitze auf die Bogensehne, spannte sie und wartete ruhig bis zum letzten Augenblick, bevor sie schoss. Der Pfeil sirrte vom Bogen.
Die Vordkönigin fing ihn mit der linken Hand in der Luft, drehte ihr Handgelenk in einer geschmeidigen Bewegung, die zu schnell war, als dass man sie genau hätte verfolgen können, und rammte die Spitze in Richtung von Kitais Kehle. Kitai riss in verzweifelter Abwehr den Arm hoch, und die Salzkristallspitze drang ihr durch den Unterarm und begann auf der anderen Seite wieder herauszukommen, bevor der dünne Schaft des Pfeils zerbrach. Der Stoß ließ ihren Unterarm dennoch gegen ihr Kettenhemd prallen, und der vorstehende Teil der blutgetränkten Salzkristalle wurde daran zu Pulver zermahlen.
Kitai fiel wie ein Stein.
Tavi steckte sein Schwert in die Scheide und änderte geschickt seine Flugrichtung, erhöhte die Geschwindigkeit und hoffte, dass Kitai selbst während eines tödlichen Absturzes geistesgegenwärtig genug sein würde zu begreifen, was die Königin so gut wie sicher als Nächstes tun würde.
Im Fallen zog Kitai ihren dritten – und letzten – Salzpfeil aus dem speziell dafür angefertigten Köcher und schoss ihn instinktiv schnell auf die Königin. Die Vordkönigin musste seitlich ausweichen, um dem Pfeil zu entgehen, während zugleich ein weiteres Feuergewirk auf ihrer Hand mit den dunklen Fingernägeln aufblühte.
Tavi drehte sich so um, dass sein Bauch himmelwärts wies, als er Kitai auffing. Ihre Schulterblätter prallten auf seinen Unterleib und ihr Kopf schlug gegen seinen gepanzerten Oberkörper, während er sein Elementarwirken verstärkte, um ihrer beider Gewicht zu tragen. Die Feuerkugel der Königin dröhnte ohrenbetäubend und explodierte weniger als zehn Fuß von ihnen entfernt. Es war heftig genug, um Tavi die Augenbrauen zu versengen, und der Gestank verbrannten Haars drang ihm in die Nase.
Tavi hatte Kitai etwa zwanzig Fuß über dem Boden aufgefangen, und sein Rücken prallte vom Kopf einer Fangschrecke im Winterschlaf ab, bevor ihr Sturz vorüber war und er wieder an Höhe zu gewinnen begann. Er ächzte, vergewisserte sich, dass seine Arme sicher um Kitai lagen, und nahm so viel Geschwindigkeit auf, wie er nur konnte. Er floh in die Nebelwolke, die mittlerweile den verlassenen Wehrhof einhüllte.
»Kitai?«, rief er. »Kitai?«
Sie antwortete nicht.
Donner grollte über das Tal, ein drohendes, lautes Tosen aus den Gewitterwolken, die sich um den schneebedeckten Gipfel des Garados zusammenballten und von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne in ein dunkles Orange gehüllt wurden – Thana, die Windelementarin, die bei den Hofbewohnern des Tals als Garados’ Frau galt, zog ihre eigene Streitmacht zusammen.
»Kitai!«, schrie Tavi.
Sie hing schlaff in seinen Armen.
Die Vordkönigin stieß ein Triumphkreischen aus und schoss ihnen in tödlicher, zielstrebiger Verfolgung nach.
Amara erwachte mit einem üblen Geschmack im Mund. Sie versuchte, ihn auszuspucken, nur um zu spüren, wie irgendetwas ihn wieder hineindrückte. Sie knurrte in schwachem Protest und hob die Hand.
»Gräfin«, sagte die ruhige, leise Stimme der Ersten Fürstin. »Du musst ihn im Mund behalten. Aufgrund deiner Kleidung hast du weitaus mehr Gift als Aria abbekommen, und wenn du ihn ausspuckst, bevor es neutralisiert ist, dann könntest du einen Rückfall erleiden.«
Amara zitterte und öffnete blinzelnd die Augen. Sie lag in einem flachen Wasserbecken; ihr Kopf ruhte auf Isanas gekreuzten Beinen. Was sie auch im Mund haben mochte, das Zeug schmeckte modrig und abscheulich – so abscheulich, dass es den Schmerz fast völlig überlagerte, der beständig durch ihren von Schnitten und Prellungen übersäten Körper pulsierte.
Was hieß, dass sie am Leben war. Was keinen Sinn ergab. Eben noch hatte sie ihr Leben für die äußerst
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