Codex Alera 06: Der erste Fürst
Wohingegen Araris, der ihr sogar noch näher stand, immer ein Musterbild für Ersteres gewesen war …
Araris. Sie hatte ihn schlaff durch den Raum fliegen sehen. Sie hatte gesehen, wie Männer ihm eine Kapuze über den baumelnden Kopf gezogen hatten. Sie hatten ihn anscheinend ebenso wie sie mitgenommen, als sie gegangen waren. Sie hätten ihm doch bestimmt keine Kapuze übergezogen, wenn er tot gewesen wäre.
Bestimmt nicht.
Isana flog in ihrer Angst weiter, die ihr weder Kraft verlieh, noch um sie herumströmte und sie unberührt ließ. Sie fühlte sich wie eine Sandbank, die langsam, aber sicher von den umgebenden Strömungen des Entsetzens weggespült wurde. Ihr war übel.
Jetzt ist es aber gut , tadelte sie sich scharf. Wenn sie sich in die Kapuze übergab, dann würde sie abgesehen von Gefahr und Unbehagen auch noch eine ausgesprochen demütigende Lage durchstehen müssen. Wenn sie die Angst weder nutzen, noch neben ihr herleben konnte, dann konnte sie sich wenigstens zwingen weiterzumachen. Sie musste sich nicht von der Furcht abhalten lassen, ihren Verstand einzusetzen. Sie sollte alles tun, was in ihrer Macht stand, um ihren Feinden Widerstand zu leisten. Sie konnte wenigstens so viel tun wie in der Vergangenheit.
Ihr waren schon einmal die Augen verbunden gewesen, so dass sie gezwungen gewesen war, sich von anderen Sinnen leiten zu lassen. Sie konnte durch die Kapuze nichts sehen, über das Rauschen des Windes hinweg nichts hören und mit ihren von der Kälte betäubten, gefesselten Händen auch nichts ertasten, geschweige denn etwas riechen oder schmecken, wenn man vom leicht moderigen Geruch der Kapuze über ihrem Kopf absah. Aber das hieß nicht, dass sie unfähig war, etwas über ihre Entführer herauszufinden.
Isana stählte sich und öffnete ihre Wasserwirkersinne den Gefühlen der Leute um sie herum.
Sie brandeten mit einer gedankenversengenden Heftigkeit auf sie ein. Die Gefühle der Feinde kochten hoch und waren äußerst unangenehm zu erleben. Isana rang darum, die verschiedenen Eindrücke auseinanderzuhalten, aber es war, als ob man versuchte, in einem riesigen Chor auf einzelne Stimmen zu lauschen. Ein paar Höhepunkte stachen hervor, aber überwiegend verschwammen sie zu einem Ganzen.
Die intensivsten Eindrücke empfing sie von den beiden Männern, die ihre Arme festhielten – und das vorherrschende Gefühl, das sie bei ihnen wahrnahm, war … Verwirrung. Sie flogen in einem Zustand derart durchdringender Verunsicherung und Traurigkeit, dass Isana ein paar Sekunden lang ihre eigenen Emotionen nicht von ihren unterscheiden konnte. Die Jahre, die sie nun schon mit ihrer Begabung lebte, hatten ihr die Fähigkeit verliehen, die subtilen Verflechtungen von Gefühlen und ihr Strömen auseinanderzuhalten und wohlbegründete Vermutungen über die Gedanken anzustellen, die mit ihnen einhergingen.
Die Männer wussten, dass irgendetwas grundfalsch war, aber sie konnten sich nicht darauf konzentrieren, was es wohl sein könnte. Jedes Mal, wenn sie es versuchten, spülten Wellen von aufgezwungenen Empfindungen und Gefühlen über den Gedanken und schwemmten ihn weg. Das einzige Mal, dass irgendetwas Greifbares zu fassen war, kam, als Isana einen unmenschlichen Schrei von irgendwo vor ihnen aufsteigen hörte. Beide Männer konzentrierten sich sofort mit grimmiger Zielstrebigkeit. Ihre Gefühle waren völlig im Gleichklang, und Isana spürte, dass einer von ihnen leicht aufstieg, während der andere absank, und erriet, dass sie gerade den Befehl erhalten hatten, einen großen Bogen zu fliegen und in der Luft einen Richtungswechsel vorzunehmen.
Isana erschauerte. Sie waren höchstwahrscheinlich Sklaven, die Züchtigungsringe trugen und durch den Einsatz dieser Sklavenhalterwerkzeuge gegen ihren Willen in den Dienst der Vord gepresst worden waren. Sobald sie das festgestellt hatte, war sie in der Lage, mehr von den beiden Männern zu spüren – ihre Herzen quollen vor Trauer über. Obwohl ihr Verstand jedes vernünftigen Gedankens beraubt worden war, mussten sie auf irgendeiner Ebene wissen, was man ihnen angetan hatte. Sie wussten, dass ihr Können und ihre Kräfte von einem Feind gegen ihr eigenes Volk gewendet wurden, selbst wenn sie die Einzelteile dieser Vorstellung nicht bewusst zusammensetzen konnten. Sie wussten, dass sie früher einmal mehr als dies gewesen waren, konnten sich aber nicht erinnern, was, und die Tatsache, dass vernünftiges Nachdenken ihnen versagt wurde, dass sie
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