Codex Alera 06: Der erste Fürst
Antillanischen Legionen gedient. Er starrte in dumpfem, instinktivem Entsetzen auf den Anblick, der sich ihm bot.
Die Schildmauer war durchbrochen worden.
Eine Bresche, die eine Viertelmeile breit war, hatte sich in den uralten, elementargewirkten Befestigungsanlagen geöffnet. Die gewaltige Belagerungsmauer, fünfzig Fuß hoch und doppelt so dick, hatte jahrhundertelang so unverrückbar wie ein Gebirge dagestanden. Aber jetzt klaffte die Öffnung in der Mauer wie eine Wunde. In den vergangenen Jahren hätte der Anblick wilden Alarm ausgelöst, und die zottigen weißen Eismenschen wären schon längst zu Tausenden durch die Lücke geströmt.
Jetzt aber wirkte alles ruhig. Marcus bemerkte mehrere Gruppen von Wagen und Packtieren, die auf einem ausgetretenen Pfad durch den Schnee zu der klaffenden Bresche zogen. Wenn er sich nicht täuschte, transportierten sie Vorräte. Tribunin Cymneas Versorgungsoffiziere schienen damit beschäftigt zu sein, Proviant für einen Marsch aufzuladen.
Ohne Halt machen zu lassen, ritt der Hauptmann geradeaus weiter direkt auf das Loch in der Mauer zu, und die Legionen aus Canim und aleranischen Soldaten folgten ihm.
Marcus erschauerte unwillkürlich, als er durch die Bresche in der Schildmauer kam. Die Männer beklagten sich untereinander, wenn sie glaubten, dass sie nicht belauscht würden. Der Hauptmann hatte den Befehl ausgegeben, dass niemand das einfache Feuerwirken nutzen sollte, das besser als jeder Mantel geholfen hätte, die Männer gegen die Kälte zu isolieren.
Jenseits der Schildmauer lag … ein Hafen.
Marcus blinzelte. Die weite Ebene vor der Schildmauer blieb, vom Fundament der Mauer aus gerechnet, eine halbe Meile weit flach, und zwar auf ganzer Länge der Mauer. Es war einfacher, auf Ziele zu schießen, wenn sie nicht ständig auf unterschiedlich hohem Gelände auf und ab holperten. Außerdem war den Eismenschen so bei einem Angriff die Sicht durch die eigenen Reihen verstellt. Es war ein offenes Stück Land ohne Deckung.
Nun wimmelte es hier von den großen Schiffen der Flotte, die aus Canea zurückgekehrt war – ein Wald aus nackten Masten, die in den schneereichen Himmel ragten. Der Anblick war bizarr. Marcus fühlte sich vollkommen orientierungslos, als die Legionen direkt hinter der Schildmauer abbogen. Am Ende stand die gesamte Streitmacht in einer Kolonne parallel zur Mauer aufgereiht. Der Hauptmann befahl: »Linksum!«, und Marcus stand, gemeinsam mit Tausenden anderer Legionares , und starrte die Schiffe an, die so fehl am Platze waren.
Octavian wendete sein Pferd und ritt ungefähr bis zum Mittelpunkt der Linie. Dann wandte er sich seiner Truppe zu und hob die Hand, um Schweigen zu gebieten. Es wurde still. Als er sprach, klang seine Stimme ruhig und vollkommen klar, durch Windwirken verstärkt, da war Marcus sich sicher.
»Nun, Männer«, begann der Hauptmann. »Euer fauler Urlaub im sonnigen Canea ist jetzt offiziell vorbei. Der Müßiggang hat ein Ende.«
Das entlockte den Legionen donnerndes Gelächter. Die Canim reagierten nicht.
»Während ich hier rede«, fuhr der Hauptmann fort, »greifen die Feinde alles an, was von unserem Reich noch übrig ist. Unsere Legionen kämpfen in einem Ausmaß gegen sie, das in unserer Geschichte seinesgleichen sucht. Aber ohne unsere Beteiligung können sie das Unvermeidliche nur hinauszögern. Wir müssen nach Riva, meine Herren – und das jetzt sofort.«
Marcus lauschte der Rede des Hauptmanns, in der er die Situation auf der entgegengesetzten Seite des Reichs schilderte, aber sein Blick wurde von den Schiffen angezogen. Er sah nicht mehr so klar wie früher, aber ihm fiel dennoch auf, dass die Schiffe irgendwie … verändert worden waren. Sie ruhten auf ihren Kielen, aber diese bestanden nicht mehr aus schlichtem, geweißtem Holz, sondern waren auf irgendeine Weise durch glänzenden Stahl ersetzt oder damit überzogen worden. Andere Holzkonstruktionen ragten beiderseits der Schiffe wie Arme oder vielleicht Flügel hervor und endeten in einem Gerüst, das so lang wie der Schiffsrumpf war und ebenfalls einen stahlüberzogenen Kiel aufwies. Dank dieser Flügel und seines eigenen Kiels stand das Schiff vollkommen gerade im Gleichgewicht. Etwas an dem Aufbau kam ihm vage vertraut vor.
»Mit anständigen Dammstraßen«, sagte der Hauptmann gerade, »könnten wir es binnen weniger Wochen dorthin schaffen. Aber wir haben keine Wochen. Und deshalb probieren wir etwas Neues aus.«
Als er die Worte aussprach,
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