Codex Alera 06: Der erste Fürst
hatte, und ihre Nase streifte fast Isanas. Sie nahm einen langsamen, brodelnden Atemzug und zischte dann: »Was ist das? Was ist es?«
Isana lehnte sich zurück, weg von der Königin. »Ich … Ich verstehe nicht.«
Die Königin stieß ein leises Zischen aus, ein blubberndes, reptilienhaftes Geräusch. »Dein Gesicht. Deine Augen. Was hast du gesehen?«
Isana rang einen Moment darum, ihren rasenden Herzschlag zu verlangsamen und ihre Atmung zu zügeln. »Du … Du hast ausgesehen wie jemand, den ich kenne.«
Die Königin starrte sie an, und Isana überkam ein schreckliches Gefühl. Etwas schien in sie einzudringen, wie tausend Würmer, die sich auf ihrer Kopfhaut ringelten.
»Was«, zischte die Vordkönigin, »ist Alia?«
Zorn überkam Isana ohne Vorwarnung, kalt und beißend, und sie schleuderte die Erinnerung an diesen kalten Steinboden gegen das Gefühl auf ihrer Kopfhaut, als ob sie das kriechende Streicheln mit dem Bild selbst hätte zermalmen können. »Nein«, hörte sie sich mit ausdrucksloser, kühler Stimme sagen. »Hör auf damit.«
Die Vordkönigin zuckte – eine Bewegung, die ihren ganzen Körper erfasste, so als ob ein Baum in einer plötzlichen Windböe wankte. Sie ließ den Kopf zu einer Seite rucken und starrte Isana mit offenem Mund an. »W … Was?«
Isana spürte die Kreatur schlagartig: Ihre Gegenwart fügte sich in ihren Wasserwirkersinnen zusammen wie ein plötzlich aufsteigender Nebel. Es lag ein Gefühl völliger, erschrockener Verblüffung in ihr, gepaart mit dem schmerzlichen Zusammenfahren eines Kindes, das zurückgewiesen worden ist. Die Vordkönigin starrte Isana einen Moment lang voll Verwunderung an – ein Gefühl, das rasch in etwas wie …
… Furcht überging?
»Es steht dir nicht zu, das zu nehmen«, sagte Isana in hartem, festem Ton. »Versuch es nicht noch einmal.«
Die Vordkönigin starrte sie einen endlosen Moment lang an. Dann erhob sie sich mit einem neuerlichen unheimlichen Zischen und wandte sich ab. »Weißt du, wer ich bin?«
Isana runzelte die Stirn und starrte auf den Rücken der Vordkönigin. Weißt du es? , fragte sie sich. Warum solltest du sonst fragen?
Laut sagte sie nur: »Du bist die erste Königin. Die ursprüngliche, aus dem Wachswald.«
Die Vordkönigin wandte sich um und sah sie schief an. Dann sagte sie: »Ja. Weißt du, warum ich hier bin?«
»Um uns zu vernichten«, sagte Isana.
Die Vordkönigin lächelte. Es war kein menschlicher Ausdruck. Es lag nichts Liebenswürdiges darin, kein Gefühl war damit verknüpft – es war nur ein Zusammenziehen von Muskeln, etwas, das eher nachgeäfft als wirklich verstanden wurde. »Ich habe Fragen. Und du wirst sie beantworten.«
Isana erwiderte das Lächeln mit einer Miene so ausdrucksloser Ruhe, wie sie sie nur irgend aufbringen konnte. »Ich sehe nicht ein, warum ich das tun sollte.«
»Wenn du es nicht tust«, sagte die Vordkönigin, »werde ich dir Schmerzen zufügen.«
Isana hob das Kinn. Sie ertappte sich bei einem ganz leichten Lächeln. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ich Schmerz spüre.«
»Nein«, sagte die Königin, »das wäre es nicht.«
Dann drehte sie sich um, machte zwei lange Schritte, packte Araris an der Vorderseite seines Kettenhemds und hob ihn in die Luft. Mit einer Bewegung völlig ungezügelter Schnelligkeit und Brutalität wirbelte sie herum und schmetterte seinen Rücken gegen die kroatsch überzogene Wand. Isana schlug das Herz bis zum Hals, und sie wartete darauf, dass die Königin ihn schlagen oder mit ihren funkelnden grünschwarzen Nägeln zerkratzen würde.
Aber stattdessen lehnte die Königin sich einfach gegen den bewusstlosen Mann.
Araris’ Schultern begannen langsam im schimmernden Kroatsch zu versinken.
Isana schnürte sich die Kehle zu. Sie hatte Berichte gelesen und mit Hofbewohnern gesprochen, die gesehen hatten, wie ihre Familie oder andere geliebte Menschen auf ähnliche Weise unter dem Kroatsch eingeschlossen worden waren. Diejenigen, die so begraben wurden, starben nicht. Sie lagen einfach reglos da, als seien sie in einem warmen Bad in leichten Schlaf gefallen. Und während sie dösten, verschlang das Kroatsch sie langsam und schmerzlos bis auf die Knochen.
»Nein«, sagte Isana, lehnte sich in die Hocke vor und streckte eine Hand aus. »Araris!«
»Ich werde Fragen stellen«, sagte die Vordkönigin langsam, als ob sie auf den Worten herumkaute, um zu prüfen, wonach sie schmeckten, während Araris in der gallertartigen Masse versank.
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