Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
durchaus.«
»Hast du Angst vor dem Tod?«
»Nicht mehr als jeder andere, glaube ich. Weshalb fragst du mich danach?«
»Du hast gesehen, wie sie mit Glockner verfahren sind.«
»Ja.«
»Diese Männer schrecken vor nichts zurück.«
»Ja, das weiß ich.«
»Du solltest nicht an den Tod denken müssen. Er kommt sowieso schon früh genug. Sogar für einen alten Kerl wie mich, der ein langes Leben hinter sich hat. Bevor du dich versiehst, bist du weg, verschwunden, gestorben. Die Welt geht weiter ihren Gang, alles bleibt beim Alten. Berlinbleibt an seinem Platz, Kopenhagen auch und Island. Aber du und ich werden lange verschwunden sein, und es gibt keine Menschenseele mehr auf der ganzen Welt, die sich daran erinnert, dass wir einmal gelebt haben. Du bist jung und glaubst, dass es nie geschehen wird, aber ich sage dir, der Tod kommt immer im nächsten Augenblick, auch wenn du das Glück haben solltest, ein hohes Alter zu erreichen. Im nächsten Augenblick, Valdemar! Du kommst unter die Erde, und einen Augenblick später sind fünfhundert Jahre vergangen. Der Codex Regius wird alles überdauern. Er wird uns alle überleben. Nicht wir bewahren ihn, sondern er bewahrt uns. Er ist unser zukünftiges Leben. Er ist unsere Geschichte in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er hat die Jahrhunderte überdauert und wird noch viele Jahrhunderte leben. Er hat ganze Weltreiche kommen und gehen sehen, Weltkriege haben getobt, er hat bitterste Armut und technischen Fortschritt erlebt; Columbus ist zu seinen Zeiten nach Amerika gesegelt, und jetzt wird darüber geredet, dass die Menschen in den Weltraum fliegen. Eines Tages werden sie auf dem Mond landen, und der Codex Regius wird Zeuge dessen sein, denn er ist unsere Geschichte, die Geschichte der Erde und die Geschichte der Zeit.«
Der Professor holte tief Atem. »Er ist die Zeit selbst, Valdemar. Unser armseliges Erdendasein spielt überhaupt keine Rolle im Vergleich zu dieser Handschrift. Wir sind nur ihre Hüter.«
Ein langes Schweigen folgte seinen Worten.
»Ich möchte, dass du das nie vergisst, was auch immer geschehen mag«, sagte er.
»Du wirst ihnen das Buch also nicht überlassen?«, fragte ich.
»Das kann ich nicht«, antwortete der Professor. »Das darf nicht geschehen.«
»Aber wenn … Wenn es ums Überleben geht?«
Der Professor schwieg.
»Leider, Valdemar, leider«, flüsterte er. »Das geht nicht. Niemals werde ich diesen Männern den Codex Regius überlassen. Eher sterbe ich.«
»Und ich auch.«
»Ich hoffe, du verstehst das, Valdemar. Sie bekommen den Codex Regius nicht.«
In diesem Augenblick erinnerte ich mich an eine Vorlesung über diese Handschrift an der Universität in Island, als die Eddalieder behandelt wurden. Hier unten im Laderaum der Gullfoss kamen mir die Worte von Dr. Sigursveinn wieder in den Sinn, dass die Helden dieser Lieder sich für gewöhnlich in einer Situation befinden, in der es nur zwei Alternativen gibt, und beide sind gleich verhängnisvoll. Mein Entsetzen, als mir klar wurde, dass unter solchen Umständen die Helden meistens Taten verrichteten, die unerträgliches Leid für sie heraufbeschworen, lässt sich kaum beschreiben.
Sechsundzwanzig
In diesem Augenblick hörten wir Schritte, und bald standen sie wieder vor uns, Joachim und Helmut. Ein Grinsen umspielte Joachim von Orlepps Lippen.
»Mein Vater hat mir gesagt, es gäbe eine ganz sichere Methode, damit du klein beigibst«, sagte er.
»Ach, tatsächlich?«, fragte der Professor höhnisch. »Ihr habt also nichts gefunden?«
»Natürlich war da nichts«, sagte Joachim noch immer grinsend. »Aber jetzt ist es vorbei mit diesen Spielchen.«
»Was habt ihr mit Sigmundur gemacht?«
Joachim zuckte mit den Achseln. »Möglicherweise hat er einen Unfall gehabt. Vielleicht ist er über Bord gegangen. Auf See passieren doch allerlei Unfälle.«
»Habt ihr die Seiten der Lücke hier mit an Bord?«, fragte der Professor.
»Mein Vater trennt sich nie von ihnen.«
»Er ist also noch am Leben?«
»Er sehnte sich nach Europa«, sagte Joachim. »Das Exil in Südamerika war unerträglich für ihn. Deshalb haben wir ihn zurückgebracht, und zwar über Italien, und jetzt lebt er wieder in Deutschland, an der Schweizer Grenze.«
»Der alte Scheißkerl«, sagte der Professor.
»Er freut sich darauf, dich wiederzutreffen.«
»Der Junge da hat also die Pergamentseiten bei uns gesehen?«, sagte Joachim mit einer Kopfbewegung in meine Richtung.
»Ich muss mit deinem Vater
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