Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
Professor und ich seien ihm per Zufall in Deutschland auf die Schliche gekommen und nach Dänemark gefolgt, ohne davon gewusst zu haben, dass wir polizeilich gesucht wurden. Davon hätten wir erst erfahren, als wir nach Kopenhagen kamen. Der Professor sei dann zur Polizei gegangen, um sie über das Vorhaben von Orlepps zu unterrichten, und das hatte viel länger gedauert als erwartet. Wegen der Abreise der Gullfoss hatte ich keine andere Möglichkeit gesehen, als Joachim von Orlepp auf den Fersen zu bleiben und als blinder Passagier an Bord zu gehen. Als er entdeckte, dass ich hinter ihm her war, hatte er mich brutal attackiert.
Diese meine Version wurde von Joachim von Orlepp nicht angefochten. Ihm reichte es wahrscheinlich, in Deutschlandwegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung angeklagt zu werden. Auf diese Weise wurde nie bekannt, dass der Professor an Bord gewesen war. Bei dem kleinen Nachspiel im Zusammenhang mit der Auslieferung von Orlepps an die deutsche Polizei erwähnte ich den Codex Regius mit keinem Wort. Genauso wenig kam Joachim von Orlepp auf seinen Vater zu sprechen und ich auch nicht.
Ich gab vor, nichts über den Verbleib des Professors zu wissen.
Ich hörte davon, dass die Direktoren der Königlichen Bibliothek und des Handschrifteninstituts den Codex Regius unter all den Handschriften wiederfanden, an denen der Professor geforscht hatte. Ich war bereits einige Tage zuvor nach Kopenhagen zurückgekehrt. Unter anderem hatte ich Vera einen Besuch abgestattet. Das Buch fand sich zwischen den anderen Manuskripten, und niemand wunderte sich darüber.
Ich berichtete Vera, was in jener schicksalhaften Nacht an Bord der Gullfoss vorgefallen war. Sie lauschte stumm meinen Ausführungen und dankte mir beim Abschied für meinen Besuch, Gittes schweigsames Ebenbild.
Sie starb zwei Jahre später, und ich war einer der wenigen, die ihr die letzte Ehre erwiesen.
An dem Tag, an dem die Gullfoss auslief, hatte der Professor eine Summe, die fünf Monatsgehältern von ihm entsprach, an Hilde Kamphaus in Berlin überwiesen, mit den besten Wünschen für eine gute Zukunft. Ihren Brief, in dem sie sich wortreich für seine Großzügigkeit bedankte, fand ich unter der Korrespondenz des Professors.
Wie so oft erwies sich die Zeit als guter Verbündeter in einer Verschwörung des Schweigens. Etwa ein Jahr nach dem Tod des Professors hörte ich eine Theorie über sein urplötzliches und unerklärliches Verschwinden aus denakademischen Kreisen in Kopenhagen. Es war nur eine von vielen, an denen er selbst seinen Spaß gehabt haben würde, und sie passte haargenau zu all den Geschichten über Isländer früherer Zeiten in dieser Stadt. Es hieß, dass seine Alkoholexzesse und unklare Zeitungsmeldungen aus Deutschland und Dänemark ihn so furchtbar mitgenommen hatten, dass er sich zum Schluss, seines Lebens überdrüssig, von Langebro gestürzt hätte.
Ich pflegte meine Mutter auf ihrem Totenbett, sie starb viel zu jung. Sie war damals nach Island zurückgekehrt, wieder einmal geschieden. Sie hatte Krebs, und ihr blieben nur noch wenige Monate. Das war 1963. Ich nahm mir unbezahlten Urlaub, fuhr nach Island und pflegte sie zusammen mit meiner Tante. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich es längst aufgegeben, nach meinem Vater zu fragen. Meine Mutter hielt meine Hand und sagte mir, sie habe immer versucht, das Leben in vollen Zügen zu genießen, und sie bereue nichts. Meine Tante, Gott hab sie selig, starb vier Jahre später.
In Veras Wohnung hatte der Professor mit mir über das Gefühl des Verlusts gesprochen, bevor er zu seiner letzten Reise aufgebrochen war. Erst nachdem das Meer ihn verschlungen hatte, begriff ich voll und ganz, was er versucht hatte, mir zu sagen. Seitdem ist kein Tag vergangen, an dem ich den Professor nicht vermisst oder an ihn gedacht oder ihn vor mir gesehen habe, so wie ich und kein anderer ihn kannte. Mit diesem Verlust habe ich gelebt, und wenn ich mich vielleicht auch in gewissem Sinne damit abgefunden habe und viel Zeit seitdem verstrichen ist, ist es immer noch sehr schwer. Ich verlor einen Freund, einen Seelengefährten und einen Lehrvater in demselben Mann.
Er lehrte mich, mit den Handschriften, dem kostbarsten Kulturerbe unserer Nation, umzugehen, und er bereicherte mein Wissen darüber, was in ihnen überliefert ist. Ichhabe nach besten Kräften versucht, ihm nachzueifern, ich habe unterrichtet und geforscht und nicht zuletzt nach alten Dokumenten gesucht, nach ganzen
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