Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
ich an den Professor denken. »Hast du je in deinem Leben etwas Schöneres gesehen?«, hätte er gesagt.
An jenem Tag, bevor wir uns seinerzeit an Bord der Gullfoss geschmuggelt hatten, hatten wir uns in Veras Wohnung unterhalten. Die verschollenen Seiten der Lücke kamen ins Gespräch, wie so oft, nachdem sie uns in Schwerin entwendet worden waren. Ich fragte ihn, was er tun würde, wenn wir sie wiederbekämen.
»Ich würde sie der Edda zurückgeben«, sagte er.
»Du würdest sie nicht selbst besitzen wollen?«
»Niemand kann sie besitzen.«
»Und du würdest sie wieder einfügen?«, sagte ich.
Er antwortete nicht gleich.
»Es ist schon irgendwie komisch, sich das vorzustellen«, sagte er schließlich.
»Was?«
»Sie mit ins Grab zu nehmen, wie die alte Rósa Benediktsdóttir«, sagte er.
Ich weiß nicht, ob er das ernst meinte oder ob er sich einen Spaß mit mir erlauben wollte, wie er das manchmal tat, aber es sollte dann schließlich doch so kommen, dass er diese Pergamentseiten mit in den Tod nahm. Sie gingen mit ihm unter. Ich bezweifle, dass er sich hätte retten können, wenn er die Seiten losgelassen hätte, und ich glaube, dass ihm das klar war, so schwer verwundet und geschwächt, wie er war. Er hatte es nicht geschafft, mir die Blätter hochzureichen. Möglicherweise war es ihm auch ein letzter Trost, dass ihm die fehlenden Seiten des Codex Regius ins nasse Grab folgen würden.
Nach Beendigung meines Studiums erhielt ich eine Stelle am Handschrifteninstitut in Kopenhagen und unterrichtete ebenfalls an der Universität. Als die Handschriften nach Island zurückgebracht wurden, kehrte auch ich zurück, und ich gedenke, in Zukunft hier zu arbeiten. Ich werde den so alten, doch immer gleich jungen Codex Regius an seinem Aufbewahrungsort an der Suðurgata jeden Tag aufs Neue begrüßen. Viele Jahre sind vergangen, und ich bin gealtert, wie man mir durchaus ansehen kann. Aber der Codex Regius hat keine neuen Falten bekommen; er ist so zeitlos, wie er war, als er 1643 in Bischof Brynjólfurs Hände gelangte. Und er wird besser gehütet als je zuvor.
Ich habe nie jemandem gesagt, dass wir die verschollenen Seiten gefunden haben. Dann hätte ich die ganze Geschichte erzählen müssen, und das wollte ich nicht. Joachim von Orlepp wurde noch an Bord der Gullfoss festgenommen und dort einquartiert, wo der Professor und ich uns versteckt hatten, im Gepäckaufbewahrungsraum, der auch als Arrestzelle verwendet wurde. Es stellte sich heraus, dass die deutsche Polizei Indizien gefunden hatte, die Helmut mit dem Mord an Glockner in Verbindung brachten und ihn belasteten, unter anderem Fingerabdrücke. Hinzu kam, dass Färber den brutalen Überfall überlebte und Joachim von Orlepp als einen der Täter identifizieren konnte. Sigmundur wurde lebend gefunden, er sagte aus, dass Orlepp zusammen mit einem anderen Mann in seine Kabine eingedrungen sei, der dort alles kurz und klein geschlagen habe. Er behauptete, nichts von der doppelten Wand, dem Schnaps und den Zigaretten gewusst zu haben. Er vermutete, dass die beiden Männer sich in Bezug auf seine Person geirrt hatten. Mir gelang es, mit Sigmundur zu sprechen, nachdem man ihn gefesselt und geknebelt im Maschinenraum gefunden hatte, und er begriff sofort, worauf ich hinauswollte, als ich darauf zu sprechen kam,wie heikel diese Angelegenheit sei. Er war zwar immer noch empört darüber, dass der Professor ihm diese brutalen Kerle auf den Hals gehetzt hatte, aber er erklärte, den Codex Regius mit keinem Wort erwähnen zu wollen. Es gelang mir, ihn in diese Verschwörung hineinzuziehen. Er war zum Schluss der Meinung, dass sowohl ihm als auch dem Käufer auf Island ein Gefallen damit getan würde, den Mantel des Schweigens über alles zu breiten.
Ich wollte dem Professor um jeden Preis Deckung geben. Das sagte ich Joachim von Orlepp, bevor ich ihn dem Kapitän überantwortete. Es war ihm außerordentlich nahegegangen, mit ansehen zu müssen, wie sein Vater den Tod fand, und jeglicher Widerstand seinerseits war gebrochen. Helmut war nicht als Passagier registriert gewesen, und niemand würde ihn oder den Professor vermissen. Der alte von Orlepp war unter dem Namen seines Sohnes an Bord gegangen, und Joachim, der sich in Leith an Bord geschmuggelt hatte, trat einfach an seine Stelle. Wir kamen überein, es so darzustellen, als sei Joachim die ganze Zeit allein am Werke gewesen. Er hätte vorgehabt, isländische Kunstschätze in Reykjavík zu stehlen, und der
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