Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
aber er wird keine Schwierigkeiten machen. Ich habe ihn an der Reling auf dem Bootsdeck festgebunden. Ich … Ich muss mit dem Kapitän sprechen. Vielen Dank für die Hilfe. Und dafür, dass du die Handschrift in Verwahrung genommen hast.«
»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Halldór. »Es war mir wirklich ein Vergnügen, Valdemar. Ich bedaure nur außerordentlich, dass es so schrecklich ausgegangen ist. Es freut dich vielleicht zu hören, dass er sehr gut über dich gesprochen hat. Er meinte, wir könnten viel Gutes von dir erwarten.«
»Vielen Dank. Du weißt, dass …«
»Was?«
»Du weißt, er wollte nicht, dass Aufhebens von alldem gemacht wird«, sagte ich.
»Das hat er mir deutlich zu verstehen gegeben«, sagte Halldór.
»Ich werde mein Bestes tun, es so zu halten.«
»Natürlich«, sagte Halldór und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck von mir. »Ich weiß, dass du dein Bestes tun wirst.«
1971
Ich besitze ein Foto des Professors, das ich später in seinem Büro fand. Es liegt hier vor mir auf dem Tisch. Die Aufnahme wurde nach seinem Examen gemacht. Er steht vor dem Runden Turm, neigt sich in Richtung der Kamera und hat eine Hand auf die Hüfte gestützt. Die Zukunft steht dem hochbegabten jungen Mann offen, aber er sieht keinen Anlass zu lächeln, sondern scheint wach und fragend in die Zukunft zu blicken. Sie ist nicht zu übersehen, seine Entschlossenheit; sein Charakter lässt sich an seiner Miene ablesen. Er ist bereit, es mit dem Leben aufzunehmen, was auch immer es für ihn bereithält.
Damals wusste er nicht, dass es auf dem Grund des Atlantiks enden würde. Der Professor war der dritte Mann in der seltsamen Geschichte der verschollenen Seiten, der sie mit in sein Grab nahm, und dieses Mal waren sie für alle Zeiten im Meer verschollen.
Manchmal sehe ich mir die Filmaufnahmen von der Ankunft der Gullfoss im Hafen von Reykjavík am 4. November 1955 an, von denen ich mir vor ein paar Jahren Kopien besorgt habe. Es war ein großer Tag im Leben der Nation. Eine unüberschaubar große Menschenmenge nahm den Nobelpreisträger im Hafen von Reykjavík in Empfang, und es wurden Reden zu seinen Ehren gehalten. Er stand an diesem hoffnungsvollen Morgen in der Steuerbordnock der Gullfoss und war von Presseleuten umringt. Während er der isländischen Nation dankte und sich alle Augen aufihn richteten, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf – in einer Szene sieht man, wie sich während der Ansprache des Nobelpreisträgers ein junger Mann an Land schleicht und in der Menschenmenge untertaucht. Das bin ich, mit dem Codex Regius in der Tasche. Ich erinnere mich an Laxness’ Ansprache an die Nation oben vom Brückennock und weiß noch, dass es mich dabei siedendheiß durchzuckte: Danke du mir nicht für diese Lieder; du hast mir alle zuvor geschenkt.
In der vergangenen Woche, am 21. April, wiederholte sich die Szene, als ein weiterer großer Tag im Leben der Nation anbrach, genau an demselben Ort. Die Dänen hatten endlich nachgegeben und brachten uns die Handschriften zurück. Ich befand mich an Bord der dänischen Korvette Vædderen , die die isländischen Handschriften auf der schönsten Reise meines Lebens nach Island zurückführte. Auch wenn die Vædderen ein gutes Schiff ist, war ich auf der Reise stets in Sorge. Wir haben im Laufe der Jahrhunderte unersetzliche Kostbarkeiten beim Transport übers Meer verloren. Doch auf dieser Reise verlief alles nach Wunsch, und das Gefühl, das mich durchrieselte, als wir in den Hafen von Reykjavík einliefen, ist nicht zu beschreiben. Wieder hatte sich eine unüberschaubar große Menschenmenge versammelt, um den nationalen Kulturschätzen einen würdigen Empfang zu bereiten. Der Premierminister hielt eine Rede. Das isländische Fernsehen berichtete zum ersten Mal direkt von einem Ereignis. Ich verfolgte alles vom Deck der Vædderen mit und sah, wie das Buch Islands, der Codex Regius , nach jahrhundertelangem Exil als erste Handschrift von einem dänischen Matrosen wieder an Land getragen wurde.
Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich daran dachte, wie ich vor vielen Jahren mit dem Codex Regius an Land geschlichen war, ohne dass jemand davon wusste oderwissen durfte. Jetzt kam er zum zweiten Mal nach Hause, aber unter ganz anderen Umständen. Im späteren Verlauf des Tages saß ich im Festsaal der Universität, als der isländische Kultusminister das Buch Islands im Namen des isländischen Volkes entgegennahm. In diesem Augenblick musste
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