Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
habe in den letzten Tagen nicht viel geschlafen, denn ich musste mich um so vieles kümmern. Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, gehe ich leise nach unten, setze mich in meinen Sessel, ohne Licht zu machen, und lasse die längst vergangenen Erlebnisse Revue passieren. Ich weiß, dass ich damals große Bedenken hatte, denn ich war wohl kaum der richtige Mann für das, was uns bevorstand. Mein Professor wäre sicherlich der gleichen Meinung gewesen, wenn er mich etwas besser gekannt hätte. Glücklicherweise ahnte ich nicht, was die Zukunft für mich bereithielt, und so wurde mir erfreulicherweise das Glück zuteil, ihm in den mithin schwierigsten Situationen seines Lebens Weggefährte und Vertrauter sein zu dürfen.
Wenn ich zurückblicke und an die Ereignisse jenes Herbstes denke, kommt es mir so vor, als hörte ich wieder das gedämpfte Summen der Stadt, als sähe ich das alte Universitätsviertel mit dem Runden Turm und Lille Apoteket vor mir, als spürte ich den Bratwurstgeruch auf dem Rathausplatz und ließe mich im Strom der Menge über den Strøget treiben. Die Faszination, die diese Stadt vom ersten Moment an auf mich ausübte, ist nie von mir gewichen. Das, was sich meinen Augen darbot, versetzte mich in eine Art Rausch, und ich wusste, dass meine Lebenspfade auf irgendeine Art und Weise für immer mit Kopenhagen verknüpft sein würden. Vielleicht lag das an mir und meinerUnerfahrenheit, meiner kindlichen Naivität gegenüber einer ausländischen Großstadt. Dadurch, dass ich ins Ausland reiste und mir ein Zimmer in einer fremden Stadt mietete, hatte sich mir eine ganz neue Sicht auf das Leben eröffnet. Kopenhagen war ganz gewiss in den Augen eines jungen Mannes, der in einem ereignislosen Winkel am Ende der Welt aufgewachsen war, eine Metropole, in der ich zum ersten Mal auf eigenen Füßen stehen und mit allen Schwierigkeiten, die auf mich zukamen, alleine fertig werden musste.
An weltbewegende Nachrichten aus jenem Jahr, 1955, kann ich mich kaum erinnern und noch weniger an irgendwelche Belanglosigkeiten, die sich tagtäglich in Island ereignen und dort überdimensionale Bedeutung erhalten. Was geschah 1955? In Polen wurde der Warschauer Pakt unterzeichnet, und die Isländer waren in den letzten dreißig Jahren im Schnitt um fünf Zentimeter größer geworden. Ich erinnere mich auch daran, dass der Sommer in Reykjavík ungewöhnlich verregnet war. Das alles wurde vom Wind der Zeit verweht, bis auf eine Nachricht, die kein Isländer jemals vergessen wird. Ich sah sie zuerst auf dem Leuchtschild der Zeitung Politiken , als der Professor und ich am Ende unserer Kräfte auf dem Rathausplatz standen.
Aber das kommt erst später.
Nach der letzten Begegnung mit dem Professor schwebte ich im siebten Himmel. Abends schrieb ich meiner Tante einen Brief und sagte ihr, sie bräuchte sich keine Sorgen um mich zu machen. Ich beschrieb ihr die Reise über den Ozean und meine Begeisterung für die Stadt; ich ging mit ein paar Worten auf den ominösen und meiner Meinung nach etwas cholerischen Professor ein, achtete aber darauf, ihn nicht so zu schildern, dass meine Tante sich Sorgen machte. Mit keinem Wort erwähnte ich das, was er bei unserem vorherigen Treffen über die verdammten Wagneritenvon sich gegeben hatte. Das hätte ausführlicherer Erklärungen bedurft, als ich geben konnte. Ich befeuchtete die Gummierung mit der Zunge, klebte den Brief zu und legte ihn auf meinen Schreibtisch. Am nächsten Morgen wollte ich ihn zur Post bringen.
An diesem Abend war ich nicht in der Stimmung, um auszugehen. Ich hatte mir vorgenommen, in den nächsten Tagen Hviids Vinstue zu besuchen, wo Jónas Hallgrímsson Stammgast gewesen war, doch an diesem Abend war ich zu sehr damit beschäftigt, den Besuch bei dem Professor zu verarbeiten. Nachdem ich den Brief geschrieben hatte, legte ich mich aufs Bett und versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich über die verlorene Saga von Gaukur Trandilsson wusste. Es gab außer dem Professor noch andere, die behaupteten, sie sei womöglich ein ebenso bedeutendes Werk gewesen wie die Saga vom weisen Njáll.
Weshalb hatte der Professor die Rede auf Gaukur Trandilsson gebracht? Doch wohl deswegen, weil er auf etwas gestoßen war, was mit ihm zu tun hatte. Oder sogar auf die eigentliche Saga von Gaukur? Der Professor war bekannt für sein unermüdliches Interesse daran, verschollene Handschriften aufzuspüren. Eigentlich erinnerte er diesbezüglich sehr stark an einen
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