Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
hatte. Falls der Professor tatsächlich der Saga von Gaukur auf die Spur gekommen war, wäre das eine Sensation, die in der Geschichte Islands ihresgleichen suchte.
Über all das zerbrach ich mir so lange den Kopf, bis ich ganz heiße Wangen bekam. Ich fühlte mich so rastlos und aufgekratzt, dass an Schlaf nicht zu denken war. Ich versuchte zu lesen, konnte mich aber auf nichts konzentrieren. Es endete damit, dass ich meine guten Vorsätze über den Haufen warf und beschloss, trotz der späten Abendstunde noch auszugehen. Es war schon fast elf.
Der Abend war mild und schön, und es waren noch viele auf den Straßen unterwegs. Kopenhagen war ein beliebtes Reiseziel, und obwohl der Sommer seinem Ende entgegenging und der Herbst vor der Tür stand, flanierten viele Touristen aus allen Ecken und Enden der Welt auf dem Strøget und auf Kongens Nytorv. Angesichts des warmen Wetters waren die Menschen leicht gekleidet. An diesem Abend sah ich zum ersten Mal in meinem Leben Japaner. Ein Inder mit grauem Vollbart und Turban ging an mir vorbei, und am Kongens Nytorv sah ich eine Gruppe Schwarzer, ein außerordentlich seltener Anblick für einen Isländer.
Zum Schluss betrat ich das Hviids Vinstue und bestellte mir ein Bier. Die mir zur Verfügung stehenden Mittel erlaubten es mir zwar kaum, Geld für Alkohol auszugeben, aber an diesem Ort konnte ich mir einen Schluck Bier nicht versagen. Mir gingen Erzählungen von armen Isländern früherer Generationen durch den Kopf, die sich bitter darüberbeklagt hatten, sich all das, was die Stadt bot, nicht leisten zu können – Kunstmuseen, Theatervorstellungen und Konzerte. Ich war jetzt in derselben Lage. Ich musste mein Geld zusammenhalten und durfte es nicht für überflüssige Dinge verschwenden. Ich prostete im Stillen Jónas Hallgrímsson zu, der vielleicht an jenem Abend hier gesessen hatte, an dem er sich die Verletzung zuzog, die zu seinem Tod führte. Im Hviids waren die Decken niedrig und die Böden uneben, und die dunkle Kneipe wirkte auf mich wie ein einziges Labyrinth. Ich setzte mich mit meinem Bierkrug an einen Tisch und hoffte im Stillen, dass mein Reisekumpel Óskar mit seinen Freundinnen Biologie und Kunst auftauchen würde, aber es war ein anderer, unerwarteter Gast, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Ich hatte noch gar nicht lange an meinem Tisch gesessen, als ich durch die angrenzende Tür den Professor im Nachbarraum vorbeigehen sah. Zuerst erschrak ich ein wenig, aber dann dachte ich, wo anders als im Hviids sollte sich der Professor seine Kehle anfeuchten? Er hatte mich nicht bemerkt, und ich überlegte, ob ich ihn behelligen durfte. Vielleicht konnte es von Vorteil für mich sein, ihn außerhalb des Universitätsbereichs zu treffen. Ich könnte ihn von meinen armseligen Mitteln vielleicht zu einem Bier einladen, um ihn milde zu stimmen, falls das überhaupt möglich war, und mich auf einer persönlichen Ebene mit ihm unterhalten. Dabei bestünde die Möglichkeit, sich etwas besser kennenzulernen. Ich hegte die vage Hoffnung, dass er und ich bei näherer Bekanntschaft gut miteinander auskommen könnten. Ich hatte überlegt, ihn zu fragen, ob ich es wagen sollte, beim Direktor des Handschrifteninstituts vorzusprechen und anzufragen, ob es dort irgendeine Arbeit für mich gäbe. Geld konnte ich gut gebrauchen, und mir war bekannt, dass sowohl isländische als auch dänischeStudenten sich etwas dazuverdienten, indem sie Texte aus alten Handschriften abschrieben.
Gedanken dieser Art schossen mir durch den Kopf, während ich den Krug leerte und spürte, wie mir das Bier zu Kopf stieg. Mein Mut wuchs. Je mehr ich darüber nachdachte, hier in dieser Kneipe mit dem Professor zu sprechen, desto besser gefiel mir die Idee. Falls er unangenehm darauf reagierte, bräuchte ich mich bloß zu entschuldigen und zu verschwinden. Was konnte also schon passieren? Falls er mich dazu einlud, mich zu ihm zu setzen, war der Sieg schon halb gewonnen. Unsere bisherigen Zusammentreffen waren, wie soll man es ausdrücken, bestenfalls durchwachsen gewesen, doch ich hatte gespürt, dass der Professor ein milderes Herz in der Brust trug, als er zeigen wollte. Das jedenfalls signalisierte mir das Bier, das ich mir einverleibt hatte.
Ich stand auf und wanderte durch den Gang, in dem der Professor verschwunden war. Das Lokal war ziemlich gut besucht, an einigen Tischen saßen die Gäste zu zweit und zu dritt zusammen, es gab aber auch Leute, die so wie ich ganz allein gekommen
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