Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
Kriminalisten. Er ging sämtlichen Anhaltspunkten nach, nahm alle Zeugnisse genauestens unter die Lupe und verfolgte alle Hinweise mit beharrlicher Zähigkeit, bis er das fand, was er suchte – oder die Spur verlief im Sand. Er war bekannt dafür, Sammlungen in Deutschland, Dänemark, England, Irland, Schweden und Norwegen durchkämmt zu haben, wo auch immer er ein winziges Fragment von isländischen Handschriften und Dokumenten oder vielleicht sogar von den unvergleichlich kostbaren Pergamenthandschriften zu finden hoffte.
Ich wusste wahrlich nicht sehr viel über den Professor, als ich aus Island abreiste, aber das eine oder andere von dem, was mir zu Ohren gekommen war, klang höchst abenteuerlich. Dr. Sigursveinn hatte mir ein wenig über ihn erzählt, wobei ich bemerkte, dass er sich sehr vorsichtig ausdrückte und nicht sehr erbaut von diesem Thema zu sein schien. Von daher wusste ich, dass der Professor als junger Mann nach Kopenhagen gereist war und aufgrund seiner Abschlussprüfung an der höheren Schule in Reykjavík und seiner außerordentlichen Begabung direkt zur Universität zugelassen wurde. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, befand er sich gerade in Island, er schob deswegen das Studium zwischenzeitlich auf und heuerte auf einem Schiff an. Es hieß, dass er mit der Neutralitätspolitik von Dänemark und den anderen nordischen Ländern nicht einverstanden war.
Als der Erste Weltkrieg zu Ende war, kehrte er nach Kopenhagen zurück, setzte sein Studium fort und beendete es mit überdurchschnittlich guten Noten. Statt aber nach Island zurückzukehren, entschloss er sich, in Dänemark zu bleiben, wo die Handschriften aufbewahrt wurden. Er erhielt eine Lektorenstelle, und es dauerte nicht lange, bis er zum Professor ernannt wurde, der jüngste Mann, dem diese Ehre dort zuteilwurde. Er gehörte zu den Ersten, die vor der Gefahr des aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland warnten. In den zwanziger und dreißiger Jahren war er auf der Suche nach isländischen Pergamenthandschriften sehr viel in Deutschland unterwegs und wenig angetan von dem, was sich seinen Augen darbot. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde Dänemark von den Deutschen besetzt, und man erzählte sich, dass er in der dänischen Untergrundbewegung aktiv war. Gegen Ende der Besatzungszeit wurde er von den Deutschen gefangen genommen, kam aber mit dem Schrecken davon,als sie sich aus Dänemark zurückziehen mussten. Daheim in Island kursierten Geschichten, dass er sein Leben damit gerettet habe, dass er dem Gestapo-Befehlshaber in der Stadt die Seiten aus der wichtigen Handschrift Möðruvallabók ausgehändigt hatte, auf denen sich die Saga vom weisen Njáll befand. Viele waren darauf hereingefallen und hatten den Codex eigens zu dem Zweck durchgeblättert, um diese Klatschgeschichte bestätigt zu bekommen, mussten aber beschämt feststellen, dass die betreffenden Seiten an Ort und Stelle waren.
Als die Deutschen Dänemark fluchtartig verlassen hatten, wendete sich das Blatt für den Professor komplett. Einige betrachteten ihn jetzt als Kollaborateur der Deutschen, da er in den zwanziger und dreißiger Jahren und sogar noch während des Kriegs eng mit deutschen Institutionen zusammengearbeitet hatte. Man erzählte sich, dass er in den Wirren, die nach der Befreiung von Dänemark entstanden, festgenommen worden, aber kurz darauf wieder freigelassen worden war, ohne dass es irgendein Nachspiel gegeben hätte. Es gab immer noch Leute, darunter sogar Kollegen und ehemalige Schüler von ihm, die glaubten, dass er sich vom Nationalsozialismus und der nationalsozialistischen Verherrlichung des germanischen Erbes hatte faszinieren lassen. Viele Deutsche waren felsenfest davon überzeugt, dass dieses Erbe in Island bewahrt und aufgezeichnet worden war, unter anderem im Codex Regius .
Der Professor zählte in der Tat zu den herausragendsten Wissenschaftlern auf seinem Gebiet, als ich ihn in diesen ersten Herbsttagen zu Beginn meines Studiums in Kopenhagen kennenlernte. Auch wenn der Alkohol ihn schwer gezeichnet hatte, konnte ich ihm bescheinigen, dass er fähiger und intelligenter war als seine sämtlichen Kollegen an der Universität, die womöglich ihre Zunge noch nichteinmal mit englischem Sherry benetzten – ein Getränk, dem der Professor nicht das Geringste abgewinnen konnte.
Deswegen nahm ich es sehr ernst, als er Gaukur Trandilsson ins Gespräch brachte, nachdem er mir den Test mit den fast unleserlichen Tintenklecksen vorgelegt
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