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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Lane die ersehnten Lichter
des Rising Sun vor mir auftauchten. Atemlos vor Eile, hauptsächlich aber vor
Angst, dieser entscheidende Abend könnte in Konfusion versinken, stieß ich die
Tür des Pubs auf und stürmte hinein. Ein paar wenige Gäste verteilten sich auf
den Gastraum und die Theke, und ich sah auf den ersten Blick, dass Roger nicht
unter ihnen war. Ein junger Barkeeper sammelte leere Gläser von unbesetzten
Tischen ein.
    »Ist hier ein junger Mann
gewesen?«, wollte ich von ihm wissen. »Anfang zwanzig, rötliches Haar, Bart,
wahrscheinlich trägt er einen Umhang.«
    »Mr Anstruther? Ja, der war
hier. Vor zwei Minuten ist er gegangen.«
    Bei dieser Nachricht brach ich
zur größten Betroffenheit des Barkeepers in einen Sturzbach von Verwünschungen
aus. Ich verließ das Pub noch eiliger, als ich es betreten hatte, blieb für
einen Moment auf dem Gehsteig stehen, schaute nach rechts und links. In welche
Richtung mochte er gegangen sein? Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Roger
denselben Gedanken gehabt wie ich und war zu dem Pub geeilt, aus dem ich gerade
kam, also spurtete ich diesmal im Sprintertempo durch Old Bailey und Giltspur
Street zurück und war nach drei oder vier Minuten wieder im Rising Sun.
    »Suchen Sie nach Ihrem
Freund?«, fragte der Barkeeper, als ich hereinkam. »Er war vor ein paar
Augenblicken hier und hat nach Ihnen gefragt.«
    »Nein!«, rief ich, griff mir
mit beiden Händen an den Kopf und raufte mir die Haare. Das war nicht zu
fassen. »In welche Richtung ist er gegangen?«
    »Ich glaube Richtung Middle
Street«, sagte der Barkeeper.
    Aber ich fand ihn nicht mehr.
Ich lief hinaus und suchte die nächsten zwanzig, dreißig Minuten nach Roger,
rief seinen Namen, während ich jede Straße im Umkreis von ein paar Hundert
Metern um den Smithfield Market absuchte. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
Er war verschwunden.
    Es blieb nur noch eine
Möglichkeit: Der Münzfernsprecher auf dem Gemeinschaftsflur des Hauses in
Notting Hill, in dem er sein Wohnschlafzimmer hatte, fiel mir ein. Ich rief die
Nummer an (ich kannte sie noch auswendig) und wartete eine gefühlte Ewigkeit,
dass endlich jemand abhob; die Scheiben der Telefonzelle beschlugen unter
meinem hektischen Atem. Aber es half nichts. Ich hatte diese Nummer seit über
einem Jahr nicht mehr gewählt, und als sich endlich eine Stimme meldete, erfuhr
ich, dass Roger dort nicht mehr wohnte. Nach ein paarSekunden Schweigen, die
ich benötigte, um die Sprache wiederzufinden, dankte ich der anonymen Stimme,
legte langsam den Hörer auf die Gabel und lehnte die Stirn gegen die Glaswand
der Telefonzelle.
    Es war also vorbei. Alles war
vorbei. Kalte, lähmende Verzweiflung ergriff Besitz von mir.
    Was sollte ich jetzt tun?
    Im Rückblick könnte ich nicht
mehr sagen, wie es dazu gekommen war, dass ich mich plötzlich in der Straße
vor Barbaras Wohnung in Tooting wiederfand. War ich mit dem Bus dorthin gefahren?
Mit der U-Bahn? Ich erinnere mich nicht. Dieser Zeitraum ist aus meinem
Gedächtnis gelöscht. Jedenfalls muss es spät in der Nacht gewesen sein, als ich
dort ankam, denn ich kann mich erinnern, dass auf mein Klingeln niemand
reagierte und ich sie durch gezielte Steinwürfe gegen ihr Fenster im zweiten
Stock wecken musste.
    Sie war nicht überwältigt vor
Freude, mich zu sehen. Sie war verschlafen. Ich war angetrunken. Trotzdem
schafften wir es irgendwie, uns in die Arme zu nehmen. Der anschließende
Geschlechtsakt war atemlos, ungeschickt und schnell vorbei. Ich glaube, wir
wussten beide nicht recht, was wir da taten oder warum wir es taten. Es heißt,
das erste Mal würde man nie vergessen. Dagegen erhebe ich Einspruch. Die ganze
Episode ging wie in einem Nebel an mir vorüber. Ich kann mich allerdings noch
daran erinnern, dass ich anschließend ein paar Stunden lang wach neben Barbara
lag. Zuerst waren wir beide wach. Ich starrte an die Decke, versuchte mir durch
den Alkoholdunst, der mein Gehirn einhüllte, ein Bild von den Ereignissen des
Abends zu machen. Was Barbara gedacht hat, weiß ich nicht. Einmal schaute ich
zu ihr hinüber und sah Tränen auf ihrer Wange glitzern. Um vier Uhr morgens
stahl ich mich unter ihrer Bettdecke hervor, verließ ohne Abschiedsgruß ihre
Wohnung und ging den ganzen Weg zurück nach Highgate zu Fuß durch stille
Londoner Straßen.
    An dem Tag blieb ich der
Arbeit fern. Zum einen war mein Kater zu heftig, zum anderen fürchtete ich mich
vor der Begegnung mit Barbara, die sicher schmerzhaft und

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