Coe, Jonathan
peinlich gewesen
wäre. Es stellte sich heraus, dass es ihr ähnlich gegangen war. Ende der Woche
reichte sie ihre Kündigung ein, und am Freitagnachmittag wurde eine kleine,
gedämpfte Abschiedsparty für sie gegeben, an der ich nicht teilnahm. Von
Kollegen erfuhr ich, dass sie beschlossen hatte, nach Birmingham
zurückzukehren. Es gab für mich nicht den geringsten Anlass zu glauben, dass
ich sie jemals wiedersehen würde.
Drei Monate später bekam ich
einen Brief von Barbaras Vater. Er teilte mir mit, dass Barbara schwanger sei
und mich für den Verantwortlichen hielt. Aus dem Brief ging hervor, dass er
von mir erwartete, das zu tun, was damals noch als die einzig anständige Lösung
galt.
Sechs Wochen später waren wir
verheiratet.
Ein paar Monate lang wohnten
wir im Haus ihrer Eltern nahe der Cadbury-Schokoladenfabrik in Bournville, aber
das war kein befriedigendes Arrangement. Ich bekam eine Stelle als Bibliotheksassistent
an der Technischen Hochschule der Stadt, und bald hatten wir genug Geld
zusammen, um uns eine kleine Wohnung in Northfield zu mieten. Unser erstes und
einziges Kind, Max, kam im Februar 1961 zur Welt. Es dauerte noch einmal fünf
Jahre, bis wir eine erste Anzahlung auf ein eigenes Haus machen konnten: Wir
zogen nach Rubery in eine charakterlose Straße mit lauter gleich aussehenden
Häusern, nicht weit vom städtischen Golfplatz am Fuß der Lickey Hills.
Dort verbrachten wir den
größten Teil der nächsten zwei Jahrzehnte, und dort sah ich auch Roger
Anstruther zum letzten Mal.
Wie er an meine Adresse
gekommen war, weiß ich nicht. Jedenfalls stand er an einem frühen Sonntagabend
im Mai plötzlich vor der Tür. Schon in der Großstadt hatte Roger immer eine
unverwechselbare Figur abgegeben. Als er an diesem Abend ohne Vorwarnung in
meinem Birminghamer Vorort auftauchte, wie früher in seinen langen schwarzen
Umhang gehüllt, einen dazu passenden modischen Filzhut auf dem Kopf, erschien
er mir wie ein Wesen von einem anderen Stern. Ich war zu konsterniert, um
Worte zu finden. Ich winkte ihn einfach nur herein. Ich führte ihn in unser
Hinterzimmer - Barbara, Max und ich nannten es das »Esszimmer«, obwohl wir dort
fast nie unsere Mahlzeiten einnahmen. Einen Gin Tonic konnte ich Roger nicht
anbieten, er musste sich mit Kirschlikör zufriedengeben. Barbara setzte sich
eine Zeitlang zu uns, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wer dieser merkwürdige
Fremde war (ich hatte ihr gegenüber nie von Roger gesprochen), und es war
nicht zu verkennen, wie unwohl sie sich in seiner Gesellschaft fühlte. Nach
einer Weile ging sie zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder zu Max vor
den Fernseher. Es war der Tag, an dem Francis Chichester von seiner triumphalen
Weltumseglung nach Plymouth zurückkehrte, und wir hatten zu dritt die
Fernsehübertragung verfolgt. Während meines Gesprächs mit Roger hörte ich die
jubelnde Menschenmenge und die Stentorstimme des BBC-Kommentators durch die
dünne Wand.
Unser Gespräch begann mit
etwas schwierigem Small Talk, aber in seiner unverblümten Art verlor Roger
nicht viel Zeit, um zum eigentlichen Grund seines Besuchs zu kommen. Er war im
Begriff, das Land zu verlassen. England, so gab er mir zu verstehen, hatte ihm
nicht mehr viel zu bieten. In den Jahren nach unserer Bekanntschaft war er zum
Buddhismus konvertiert, und jetzt plante er seine Ausreise in den Fernen Osten.
Seine erste Station war Bangkok, wo man ihm eine Stelle als Englischlehrer für
einheimische Studenten angeboten hatte. Aber vor der Abreise, erklärte er mir,
wollten noch ein paar »Geister« aus der Vergangenheit »zur Ruhe gelegt« werden.
Ich bezog die Anspielung auf
mich und erwiderte einigermaßen beleidigt, dass ich mich nicht als Geist,
sondern als lebendes Wesen aus Fleisch und Blut begriff.
»Und das hier«, sagte Roger,
ließ den Blick durch unser Esszimmer schweifen, über lauter hübsch
arrangierten Zierrat, das Festtagsporzellan in der ersten Reihe der Anrichte
und die billigen, gerahmten Landschaften an den Wänden, »nennst du allen
Ernstes >leben«
Ich antwortete nicht. Zum
Glück blieb es an diesem Abend Rogers einzige Bemerkung, die eine Kritik an dem
Leben implizierte, das ich mir ausgesucht hatte. Ansonsten schien er recht
konzilianter Stimmung zu sein. Er blieb etwas mehr als eine Stunde, dann musste
er den Zug zurück nach London Euston erwischen, weil seine Sachen für die
Abreise am nächsten Tag noch nicht gepackt waren. Er bat mich, ihm zu
verzeihen, wie
Weitere Kostenlose Bücher