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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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er sich mir gegenüber aufgeführt hatte. Ich antwortete ihm
(nicht ganz aufrichtig), dass ich nur noch selten daran dachte, und wenn, dann
ohne jeden bösen Gedanken oder Vorwurf. Er versicherte mir, wie froh er sei,
das zu hören, und bat mich um die Erlaubnis, mir gelegentlich aus Bangkok schreiben
zu dürfen. Wenn er das wolle, solle er es ruhig tun, sagte ich zu ihm.
    Etwa einen Monat danach traf
Rogers erste Postkarte ein. Im Lauf der Jahre sollten ihr noch viele folgen, in
ganz unregelmäßigen Abständen, aus Städten wir Hanoi, Peking, Mandalay,
Chittagong, Singapur, Seoul, Tokio, Manila, Taipeh, Bali, Jakarta, Tibet - und
von wo noch überall. Er schien nie länger als ein paar Monate an einem Ort
geblieben zu sein. Manchmal hatte er gearbeitet, manchmal war er nur
herumgereist, getrieben von dem ruhelosen Entdeckerdrang, der einen
essenziellen Teil seines Wesens ausmachte. Gelegentlich - sehr gelegentlich -
antwortete ich ihm, aber ich blieb Roger gegenüber misstrauisch und achtete
sorgsam darauf, nicht zu viel von meinem eigenen Leben preiszugeben. Ich
schrieb ihm höchstens ein paar Zeilen, in denen ich ihm die wichtigsten
Ereignisse mitteilte - dass Max die mittlere Reife erworben hatte, zum
Beispiel, dass eines meiner Gedichte in einem kleinen regionalen Magazin
erschienen war und dass Barbara im Alter von sechsundvierzig Jahren an
Brustkrebs gestorben war.
     
    Letztes Jahr, ein paar Monate
nach Barbaras Tod und Max' endgültigem Auszug aus unserem Haus, bin ich zurück
in meine Heimatstadt Lichfield gezogen. Zu diesem Anlass habe ich an ein paar ausgewählte
Freunde Karten mit der neuen Adresse verschickt, und Roger war einer von
ihnen, also hatte ich mich wohl irgendwann mit dem Gedanken versöhnt, in
Kontakt mit ihm zu bleiben. Später fragte ich mich, ob es eine kluge
Entscheidung war. Welchen Sinn sie haben sollte.
    Und inzwischen habe ich sie
revidiert: Nein. Schluss damit.
    In ein paar Tagen wandere ich
nach Australien aus, um dort - so Gott will - ein neues Leben zu beginnen. Und
diesmal wird Roger nicht von mir erfahren, wo ich hingezogen bin. Es wird Zeit,
das alles zu vergessen, ein für alle Mal - den sauberen und lange überfälligen
Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Dies alles hier nach so
vielen Jahren niederzuschreiben war ein langwieriger, aber auch ein
erfrischender, sogar reinigender Prozess. Wenn Max will, kann er das eines
Tages lesen und so die Wahrheit über seinen Vater und seine Mutter erfahren.
Ich hoffe, es erschüttert ihn nicht zu sehr. Und ich muss versuchen, aus diesem
Langstreckenflug in die Vergangenheit meine Lehren zu ziehen. Mir daraus etwas
Inspiration zu holen, nicht aus den Erinnerungen an Roger oder Crispin Lambert
(dessen Maklerfirma, wie ich in der Zeitung gelesen habe, gerade für ein
kleines Vermögen an eine der führenden Clearingbanken verkauft wurde), sondern
aus meiner eigenen Zeit im Finanzviertel - diesem Labyrinth aus alten, mit
Geschichte befrachteten Straßen, in denen man sich der engstirnigen Aneignung
von Geld verschrieben hat. Viel zu lange in der Vergangenheit verharrend, hat
die City of London sich in jüngster Zeit neu erfunden. Sie hat bewiesen, dass
eine solche Neuerfindung möglich ist, und dazu beglückwünsche ich sie. Von
jetzt an soll es mein Bestreben sein, es auch so zu machen, auf bescheidenere
Weise, und ich hoffe, als Ergebnis dieser Bestrebungen vielleicht mein eigenes
kleines Glück zu finden.
     
    20
     
    »Sag mal, Emma - wie lange kennen wir uns jetzt
schon?« Folgen
Sie dem Straßenverlauf.
    »Du erinnerst dich nicht? Na,
es ist ja auch kaum zu glauben: Es sind noch nicht einmal drei Tage.«
    Biegen Sie nach zweihundert
Metern links ab.
    »Aber es fühlt sich viel
länger an, oder? Es fühlt sich an, als würde ich dich seit Jahren kennen. Und
deshalb darf ich dir jetzt auch etwas sagen. Dir ein kleines Kompliment machen,
wenn du nichts dagegen hast. Ich meine, nichts läge mir ferner, als dich in
Verlegenheit bringen zu wollen ...«
    Biegen Sie nach hundert Metern
links ab.
    » ...aber egal, eigentlich
wollte ich Folgendes sagen. Ich wollte dir sagen, dass es etwas gibt, was ich
an dir besonders schätze. Etwas, das ich noch bei keiner anderen Frau gefunden
habe. Hast du eine Ahnung, was es ist?«
    Biegen Sie links ab.
    »Also gut. Du ... ja, du
verurteilst einen nicht. Weißt du, das ist eine Qualität, die man nicht bei
vielen Frauen findet. Auch nicht bei vielen Männern. Voreingenommenheit ist

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