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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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geweckt hätte. Ich wollte
sie gar nicht näher kennenlernen. Für mich begann ein sichererer, wenngleich
farbloserer Lebensabschnitt. Ich hatte Roger aufrichtig gern gehabt, und ohne
ihn kam mein Leben mir schal und ohne Würze vor. Im Herbst fing eine neue
Sekretärin bei Walter, Davis & Warren an. Sie hieß Barbara, stammte aus
Birmingham, war blond, vollbusig und hübsch. Ich machte ihr Avancen. Ihre
Reaktion war ermutigend. Wir sahen uns auch außerhalb der Bürostunden, traten
in eine gedämpfte, keusche, ereignislose Balzphase ein. Ich lud sie ins Kino
ein, ging mit ihr in Konzerte. Eines Abends im Sommer 1960 nahm ich sie mit in
die Royal Albert Hall, wo Prokofjews Suite Romeo und Julia aufgeführt wurde, und hegte
dabei die Hoffnung, große romantische Höhepunkte könnten vielleicht in unseren
Herzen vergleichbare Leidenschaften für einander entzünden. Der Versuch schlug
fehl. In der Pause bat sie mich, sie lieber nicht mehr in klassische Konzerte
mitzunehmen. Sie gab Cliff Richard und Tommy Steele den Vorzug. Sie sagte das
zu mir in der Bar, als wir gerade unsere Drinks austranken - ich ein halbes
Pint Bitter, sie einen Dubonnet mit Zitrone -, und als sie danach zur
Damentoilette am anderen Ende der Bar ging, sah ich Roger, der dastand und mich
anstarrte. Er war allein, und auf seinem Gesicht lag ein zufriedenes, wissendes
Lächeln. Er grüßte mit erhobenem Glas. Ich trank mein Bier aus und ging, ohne
die Geste zu erwidern.
    Am nächsten Morgen erreichte
mich bei der Arbeit eine Nachricht:
     
    Noch ist Zeit, dich zu retten.
    Heute Abend um 21 Uhr im
Rising Sun.
     
    Natürlich hatte er recht. Es
war sinnlos, dass ich mich länger gegen das wehrte, was ich längst als mein
Schicksal erkannt hatte. Warum sollte ich mich weiter über meine Natur belügen?
Als ich an diesem Abend meine Schritte in Richtung des Rising Sun lenkte, trieb
eine feste Absicht mich voran: zu tun, was Roger Anstruther von mir wollte, was
immer es war.
    Ich traf ziemlich früh ein, um
zwanzig vor neun, und bestellte einen Whisky, um meine Nerven zu beruhigen. Ich
kippte ihn herunter und bestellte mir noch einen. Der zweite reichte für eine
gute halbe Stunde, und als sie vorüber war, stellte ich nach einem Blick auf
die Uhr fest, dass Roger sich verspätet hatte. Ich bestellte mir einen Pint
Bitter und zog in der Hoffnung, mich mit Schreiben ein wenig beruhigen zu
können, mein Notizbuch heraus. Es herrschte viel Betrieb im Pub. Noch eine
halbe Stunde verging.
    Erst danach kam mir die
offensichtlichste Erklärung für Rogers Verspätung in den Sinn. Hatte er
womöglich das andere Rising Sun gemeint? Es mag merkwürdig klingen, aber der
Gedanke kam mir erst in diesem Augenblick. Für mich war einzig und allein das
Rising Sun im Cloth Fair unser Pub: Dort hatten wir unser erstes Glas zusammen
getrunken, und danach hatten dort unsere herzlichsten und bedeutungsvollsten
Treffen stattgefunden. In dem anderen Pub in der Carter Lane war ich nur ein
einziges Mal gewesen - an dem Abend, als Roger mich unbedingt Crispin Lambert
vorstellen wollte. Es hatte weder eine Bedeutung noch irgendeine Resonanz für
mich, aber mir war klar, dass Roger viel häufiger dort gewesen war, meistens,
um Crispin Lambert zu treffen und mit ihm komplizierte Wetten auszuhecken. War
meine Vermutung, die Gespräche mit mir müssten in seiner Erinnerung einen
wesentlich höheren Stellenwert haben als die Begegnungen mit Crispin, nur ein
dummer, anmaßender Irrtum gewesen? Womöglich saß er dort und wartete auf mich,
so wie ich hier saß und auf ihn wartete.
    Ich blieb noch eine
Viertelstunde, dann beschloss ich, dass es den Versuch wert war. Wenn ich
schnell ging, bestand vielleicht eine Chance, Roger noch anzutreffen, falls er
dort auf mich wartete. Ich würde durch West Smithfield und Giltspur Street
rennen, schnurgerade am Old Bailey vorbei und durch die Blackfriars Lane zur
Carter Lane. Das schien mir ein sicherer Weg. Das einzige Risiko - das nicht
sehr groß war - bestand darin, dass Roger denselben Gedanken hatte und das
Rising Sun zur selben Zeit verließ, um sich auf einem anderen Weg auf die Suche
nach mir zu machen: über die Creed Lane, zum Beispiel, und dann durch die Ave
Maria Lane, Warwick Lane, King Edward Street, Little Britain und
Bartholomew Close. Aber das Risiko konnte ich getrost eingehen.
    Nachdem ich mein Glas
leergetrunken und das Pub verlassen hatte, hastete ich halb im Marsch-, halb im
Laufschritt durch leere Straßen, bis in der Carter

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