Coe, Jonathan
Türschwelle.
»Darf ich reinkommen?«
Ich glaube, mein Vater war
aufrichtig gerührt durch die Tatsache, dass ich so kurz nach meinem letzten
Besuch schon wieder die Strapaze der langen Reise auf mich genommen hatte.
Gerührt und verwundert. Wir unternahmen nicht viel, während ich bei ihm war,
aber es herrschte eine Leichtigkeit und (darf ich es sagen?) Nähe zwischen uns,
wie wir sie beide nicht kannten. Ich gab ihm seinen kostbaren blauen Ordner,
den ich aus Lichfield geholt hatte, und erzählte ihm, dass ich The Rising Sun gelesen hatte, aber wir
redeten nicht weiter darüber. Zumindest nicht sofort. Ich erwähnte auch nicht
gleich, dass die Hälfte meines Koffers von Stapeln gebündelter Ansichtskarten
Roger Anstruthers in Anspruch genommen war. Ich wollte lieber auf den rechten
Augenblick warten, und wir verbrachten die ersten Tage meines Besuchs mit
verschiedenen unaufgeregten Haushaltsangelegenheiten. Mein Vater lebte jetzt
seit drei Monaten in dieser Wohnung, aber sie war immer noch nicht ordentlich
eingerichtet, also zogen wir stundenlang durch Möbelgeschäfte, um Sessel,
Schränke und ein Gästebett zu kaufen. Auch sein Fernseher hatte mehr als
zwanzig Jahre auf dem Buckel und drohte jederzeit den Geist aufzugeben, also
gingen wir ihm einen schönen neuen Flachbildfernseher und einen DVD-Player
kaufen. Er beklagte sich, dass er jetzt seine alten Videobänder nicht mehr
abspielen könne und dass diese modernen, winzig kleinen Fernbedienungen ja
geradezu dazu gemacht seien, sie zu verlieren, aber im Grunde war er zufrieden,
nicht nur mit dem Fernseher, mit allem anderen auch. Uns ging es schon jetzt
viel besser miteinander als bei meinem letzten Besuch.
Der Freitagabend kam, und ich
hatte ihm immer noch nicht erzählt, was für den nächsten Tag geplant war. Wir
bestellten uns Abendessen bei einem chinesischen Lieferdienst, öffneten eine
schöne Flasche neuseeländischen Shiraz, und während er die halbe Ente zerlegte
und die kleinen Pfannkuchen aus ihrer Zellophanhülle nahm, ging ich kurz ins
Nebenzimmer, und als ich zurückkam, sagte ich:
»Dad, ich habe etwas für
dich.«
Ich legte ein Quantas-Ticket zwischen uns auf den
Tisch. »Was ist das?«, fragte er. Ich sagte: »Das ist ein Flugticket.« Er nahm
es hoch und warf einen Blick darauf. »Ein Flug nach Melbourne«, sagte er.
»Richtig.«
»Für morgen.«
»Richtig, für morgen.«
Er legte es wieder hin. »Und? Was soll das?«
»Du fliegst morgen nach Melbourne.«
»Warum sollte ich morgen nach Melbourne fliegen?«
»Weil ... weil du morgen jemanden in Melbourne treffen
sollst.«
Er sah mich verständnislos an.
Mir wurde klar, dass es sich so angehört haben musste, als wollte ich ihn zu
einem Facharzt oder so etwas schicken.
»Und - wer ist das?«
»Roger«, sagte ich.
»Roger?«
»Roger Anstruther.«
Mein Vater hörte auf, die Ente
in schmale, faserige Streifen zu schneiden, und setzte sich.
»Du hast Kontakt mit Roger? Wie das?«
»Ich habe ihn ausfindig gemacht.«
»Wie?«
»Der entscheidende Hinweis war
auf seiner letzten Postkarte an dich. Ich habe sie in Lichfield gefunden.«
»Er schreibt mir immer noch?«
»Ja. Er hat nie damit aufgehört. Ich habe nebenan in
meinem Koffer an die zweihundert Postkarten von ihm.« Mein Vater kratzte sich
am Kopf. »Und er will sich mit mir treffen?«
»Ja.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ja.«
»Wie hat er sich angehört?«
»Wie einer, der ... dich gerne
wiedersehen würde.«
»Und er lebt jetzt in
Melbourne?«
Ich schüttelte den Kopf. »Adelaide. Wir haben uns auf
Melbourne geeinigt, weil es für jeden von euch ungefähr die halbe Strecke
ist.«
Mein Vater nahm das Ticket wieder zur Hand und schaute
auf die Abflugzeit, auch wenn er die Einzelheiten noch nicht ganz zu begreifen
schien.
»Scheint ja alles schon
arrangiert zu sein.«
»Wenn du mitmachst, ja.«
»Und wo treffen wir uns?«
»Im Teehaus des Botanischen
Gartens«, sagte ich, »morgen Nachmittag um drei.«
Er legte das Ticket hin, nahm Messer und Gabel zur
Hand und die Arbeit an der Ente wieder auf, die Stirn in nachdenkliche Furchen
gezogen. Fürs Erste sagte er gar nichts mehr zu dem Thema. Mir wird immer
klarer, dass mein Vater ein begnadeter Schweiger ist.
Aber an diesem Abend war nicht
zu übersehen, dass er äußerst erregt war. Ich übergab ihm die gebündelten
Postkarten, und als ich ins Bett ging, blieb er am Küchentisch sitzen, um sie
eine nach der anderen durchzulesen. Um drei Uhr morgens
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