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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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dem
Restaurant eingetroffen und sie eine dreiviertel Stunde später. Sie hatten sich
nicht verändert seit dem Valentinstag. Sie waren noch dieselben. Womöglich trug
das kleine Mädchen sogar dasselbe Kleid. Und auch an ihrem Tisch machten sie
wieder genau dasselbe. Zuerst nahmen sie zusammen ein reichhaltiges Abendessen
ein, ein erstaunlich reichhaltiges Abendessen, vier Gänge für jede von ihnen,
bevor der Kellner den Tisch abräumte, dem Mädchen eine heiße Schokolade und der
Mutter einen Kaffee servierte und die Chinesin die Karten herausholte und sie
ihr Spiel begannen. Ich konnte auch dieses Mal nicht genau erkennen, was es war
- kein richtiges Erwachsenen-Kartenspiel, aber auch kein reines
Kinder-Kartenspiel wie Schnipp-Schnapp. Was auch immer, es nahm sie ganz in
Anspruch. Sobald sie begonnen hatten, schienen sie sich in einen kleinen Kokon
der Vertrautheit zurückzuziehen, alle Gäste um sich herum zu vergessen. Die
Terrasse des Restaurants war nicht so voll besetzt wie beim letzten Mal, teils,
weil letztes Mal Valentinstag gewesen war, teils auch, weil Sydney sich bereits
deutlich kühler, herbstlicher anfühlte und viele Leute es vorzogen, drinnen zu
speisen. Auch wenn es mich leicht fröstelte, war ich froh, dass die Chinesin
und ihre Tochter draußen auf der Terrasse geblieben waren und ich sie so sehen
konnte, wie ich sie in Erinnerung hatte, vor der Kulisse des Hafens von Sydney,
auf dessen Wasser die Lichter glitzerten. Ich war bemüht, sie unauffällig zu
beobachten, nur hin und wieder einen Blick in ihre Richtung zu werfen, sie
nicht etwa offen anzustarren oder so etwas. Auf gar keinen Fall sollten sie
sich von mir belästigt fühlen.
    Zuerst war ich einfach nur
froh, sie zu sehen. Ich genoss das überwältigende Gefühl der Richtigkeit, der
Ruhe, das über mich kam, als ich sie auf die Terrasse des Restaurants kommen
sah. Immerhin war ich, obwohl der Kellner mir vor nicht allzu langer Zeit
versichert hatte, dass sie regelmäßig an jedem zweiten Samstag des Monats in
das Restaurant kamen, nicht völlig überzeugt davon gewesen, sie heute Abend
hier wiederzusehen. Meine unmittelbare Reaktion war deshalb einfach nur Erleichterung.
Aber ihr folgte auf dem Fuße ein wachsendes Gefühl der Beklommenheit. Tatsache
war, dass ich - obwohl ich mir stundenlang den Kopf darüber zerbrochen hatte -
noch auf keinen sinnvollen Vorwand gekommen war, unter dem ich mich ihnen hätte
vorstellen können. Mit dem müden Satz: »Verzeihung, haben wir uns nicht schon
mal irgendwo gesehen?« würde ich kaum bei ihnen landen können. Und wenn ich
ihnen mitteilte, dass die Aussicht, ihnen hier zu begegnen, der Hauptgrund
dafür war, dass ich ganz von London herübergeflogen war, würde es sie
wahrscheinlich in Angst und Schrecken versetzen. Gab es nicht irgendetwas in
der Mitte zwischen diesen beiden Herangehensweisen? Wenn ich ihnen einfach die
Wahrheit sagte: dass ich sie vor zwei Monaten hier im Restaurant gesehen hatte
und sie für mich seit diesem Zeitpunkt zu einer Art Totem geworden waren,
einem Symbol für alles, das eine Beziehung zwischen zwei Menschenwesen sein
konnte, in einer Zeit, in der die Menschen die Fähigkeit, miteinander in
Verbindung zu treten, zu verlieren drohten, trotz der vielen neuen Möglichkeiten,
die die technologische Entw icklung uns zur Verfügung stellte ...
Na ja, ich lief Gefahr, im Sumpf zu versinken, wenn ich diese Argumentation zu
weit vorantrieb, aber trotzdem hoffte ich, dass es - wenn mir zur rechten Zeit
die rechten Worte einfielen - eine einigermaßen plausible Erklärung abgeben
würde. Und ich sollte auch besser keine Zeit verlieren, wenn ich heute Abend
noch mit ihnen sprechen wollte. Es war spät geworden, das kleine Mädchen sah
schon etwas müde aus, und sie würden wahrscheinlich jeden Augenblick
aufbrechen. Mit dem Kartenspielen waren sie fertig, jetzt redeten sie und
lachten zusammen, trugen einen lustigen kleinen Wortwechsel über etwas aus,
während die Chinesin sich bereits nach dem Kellner umsah, wahrscheinlich, um
nach der Rechnung zu fragen.
    Also - jetzt oder nie. Mit
klopfendem Herzen wollte ich mich erheben und zu ihrem Tisch hinübergehen, als
etwas mir dazwischen kam. Jemand mir dazwischenkam, sollte ich sagen. Denn in
diesem Augenblick trat völlig unerwartet mein Vater heraus auf die Terrasse des
Restaurants und steuerte direkt auf meinen Tisch zu.
    Ja, mein Vater. Der letzte
Mensch, den ich in diesem Augenblick erwartet hätte. Denn ich wähnte

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