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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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wachte ich auf - immer
noch im Jetlag - und sah den Lichtschein unter seiner Schlafzimmertür. Am
Knarren der Bodenbretter erkannte ich, dass er auf und ab ging. Ich vermute,
dass keiner von uns in dieser Nacht mehr ein Auge zubekam.
    Am Morgen war ich als Erster
in der Küche. Ich war noch beim Kaffeemachen, als mein Vater gegen sieben
hereinkam und unvermittelt sagte: »Du hast mir kein Rückflugticket gegeben.«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Weil ich nicht weiß, wie
lange du bleiben willst. Das hängt doch wohl davon ab, wie die Dinge sich
entwickeln. Den Rückflug musst du selber buchen.«
    »Ich kann mir keinen Flug von
Melbourne nach Sydney leisten.«
    »Ich strecke dir das Geld
vor.«
    Nachdem ich das gesagt hatte,
tat er etwas ... na ja, er tat etwas, das mir einigermaßen ungewöhnlich vorkam.
Für jemanden, der eine halbwegs normale Beziehung zu seinen Eltern hat, mag
schwer zu verstehen sein, was daran so ungewöhnlich war. Zuerst sagte er:
»Danke, Max.« Dann sagte er: »Du hättest das nicht für mich tun müssen, weißt
du?« Aber das war nicht das Ungewöhnliche. Das Ungewöhnliche war, dass er,
während er das sagte, zu mir herüberkam, während ich gerade kochendes Wasser
über das Kaffeepulver in meinem Becher schüttete, und mir die Hand auf die
Schulter legte. Dass er mich berührte.
    »Was hast du heute alles vor?«
    »Keine großen Pläne«, sagte
ich. »Bis auf heute Abend, da gehe ich in ein Restaurant, wo ich selber
jemanden zu treffen hoffe.«
    Ich erzählte ihm, dass es
dasselbe Restaurant war, wo unser Abschiedsessen am Ende meines letzten Besuchs
nicht stattgefunden hatte. Ich erzählte ihm auch ein bisschen von der Chinesin
und ihrer Tochter.
    »Du kennst die Frau?«, fragte
er.
    »Nein, eigentlich nicht. Aber
...« (es erschien mir fast skurril, so etwas zu sagen, aber ich redete weiter)
» ...aber es fühlt sich so an, als würden wir uns kennen. Als würde ich sie
schon sehr lange kennen.«
    »Ich verstehe«, sagte er mit
zweifelndem Unterton. »Ist sie verheiratet? Hat sie einen Freund?«
    »Glaube ich nicht. Ich bin
ziemlich sicher, dass da kein Mann im Spiel ist.«
    »Und heute Abend sprichst du
mit ihr, hast du das vor?«
    »Das hab ich vor.«
    »Dann viel Glück«, sagte er.
    »Das wünsche ich dir auch,
Dad«, sagte ich. »Es ist für uns beide ein großer Tag.«
    Wir stießen mit unseren
Kaffeebechern an und tranken auf den Erfolg unserer bevorstehenden Rendezvous.
    Ungefähr eine halbe Stunde
später, kurz bevor er das Haus verließ, teilte ich meinem Vater mit, dass ich
sein Ladegerät gefunden, das Handy aufgeladen und es auf das Bücherregal im
Wohnzimmer gelegt hatte.
    »Vergiss bitte nicht, es
mitzunehmen!«, rief ich zu ihm ins Schlafzimmer hinüber, wo er ein paar Sachen
in die Reisetasche packte.
    »Keine Angst«, rief er zurück.
»Ich hab's schon hier.« Und ich Idiot habe ihm das geglaubt.
     
    Und jetzt, etwas mehr als
zwölf Stunden später, war er wieder zurück in Sydney und setzte sich mir
gegenüber auf die Terrasse des Restaurants, während hinter uns das Wasser und
die Lichter des Hafens glitzerten. Außer der Chinesin und ihrer Tochter waren
wir die letzten Gäste hier draußen. Ein kühler Wind wehte vom Wasser herüber.
Er zerzauste meinem Vater das Haar, und ich dachte mir, dass er von Glück
reden konnte, in dem Alter noch so volles Haar zu haben. Während ich das
dachte, strich ich mir mit der Hand durch mein eigenes Haar, das inzwischen
fast vollständig ergraut, aber - wie das meines Vaters - noch dicht und voll
war, und ich dachte, dass ich es wahrscheinlich von ihm geerbt hatte und dafür
dankbar sein sollte, weil es in meinem Alter schon viele kahlköpfige Männer
gab. Ich schaute meinen Vater an, und während mir diese Gedanken durch den Kopf
gingen, wurde mir klar, dass ich ihm in vielerlei Hinsicht ähnlich war - in der
Augenfarbe, der Linie des Kinns, der Art und Weise, wie wir beide den Drink im
Glas kreisen ließen, bevor wir es an die Lippen setzten -, und zum ersten Mal
waren mir solche Gedanken lieb und willkommen und bereiteten mir ein warmes
Gefühl in der Magengegend: Es war wie eine Heimkehr.
    »Ich hatte gehofft, dich hier
zu finden«, sagte er. »Bist du fertig mit essen? Trinkst du etwas mit mir? Mir
ist nämlich nach einem Drink zumute.«
    Ich antwortete, dass ich gerne
etwas mit ihm trinken wollte, und er rief den Kellner und bestellte zwei große
Amarettos (nur dass er Amaretti sagte).
    »Also, wie ist es gegangen?«,
fragte

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