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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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eine Art Versöhnung zwischen
meinem Vater und Roger Anstruther herbeiführen. Zuerst einmal Kontakt mit Roger
aufnehmen und ihm ein Treffen mit meinem Vater vorschlagen: ein persönliches
Treffen - keinen E-Mail- oder Telefonkontakt. Wenn ich an die geografische Entfernung
zwischen ihnen dachte, bekam der Gedanke etwas Groteskes. Sie hielten sich in
derselben Hemisphäre auf, doch das war auch schon alles. Aber mein Plan schien
sich - je länger ich über ihn nachdachte - von einer müßigen Fantasie in eine
Notwendigkeit zu verwandeln. Als dürfte meines Vaters und Rogers Geschichte
jetzt kein anderes Ende mehr finden. Bis in mein Innerstes spürte ich, dass
hier mehr am Werk war als nur irgendeine Fügung - dass diese Wiedervereinigung
tatsächlich eine schicksalhafte Bestimmung war und ich nur auf dieser Welt, um
sie zu vollenden. Könnte es sein, dass es sich für euch so anhört, als hätte
ich nach dem katastrophalen Ende meiner Reise die Tassen noch nicht alle wieder
im Schrank gehabt? Es steht euch frei, das zu denken. Ein paar unsortierte
Postkarten lagen noch in dem Müllsack, und als ich sie herausnahm, stellte ich
fest, dass die meisten aus den frühen Neunziger Jahren stammten. Eine jedoch
war aus sehr viel jüngerer Zeit. Sie zeigte eine Aufnahme der Meeresküste bei
Adelaide und war datiert auf ... Januar 2009.
    Roger hielt sich gerade in
Australien auf. Er und mein Vater lebten nur knapp sechzehnhundert Kilometer
voneinander entfernt. Atemlos las ich die Nachricht auf der Rückseite der
Postkarte ein ums andere Mal.
     
    Hatte die Nase voll vom Leben
am Arsch der Welt. Hatte Sehnsucht nach den Annehmlichkeiten der westlichen
Kultur. Außerdem denke ich manchmal - und mag der Gedanke auch noch so morbid
sein -, dass ich mir einen Ort suchen sollte, an dem ich das Ende meiner Tage
verbringen will. Und jetzt bin ich hier, zumindest für die nächsten Monate.
Meine Pension habe ich mit dem Pfeil gekennzeichnet - früher muss das mal ein
herrlicher Blick über die Bucht gewesen sein, aber die vielen neuen
Ferienwohnungen haben dem ein Ende gemacht ...
    Also, entscheidet selbst: Ist
hier die Vorsehung am Werk, oder was?
    Ich habe in letzter Zeit die
Erfahrung gemacht, dass das Internet eher Barrieren zwischen den Menschen
errichtet, statt sie zu verbinden. Aber zuweilen ist es auch eine
unkomplizierte Segnung. Innerhalb weniger Stunden hatte ich den Teil der Küste
bei Adelaide ausfindig gemacht, den Rogers Ansichtskarte zeigt, hatte Namen und
Adresse der Pension in Erfahrung gebracht und an die Inhaber eine E-Mail
verschickt, in der ich mich erkundigte, ob eine Person seines Namens bei ihnen
untergekommen war. Die Antwort erhielt ich am nächsten Morgen, und sie
entsprach meinen kühnsten Hoffnungen.
    Ich hatte Roger Anstruther
schon gefunden.
     
    Am 4. April
flog ich nach Australien. Es würde diesmal eine kurze Reise werden, nur etwas
länger als eine Woche: Das reichte nicht einmal für ein ordentliches Ausdünsten
des Jetlags. Und eigentlich hatte ich sie mir auch nicht leisten können -
nicht, ohne noch tiefer in die roten Zahlen zu geraten. Aber es musste sein.
Eigentlich wollte ich meinen Vater nicht benachrichtigen, weil ich es für
besser hielt, mit der Tür ins Haus zu fallen. Dann wurde mir klar, dass es
keine kluge Strategie war. Man fliegt nicht - immerhin zu erheblichen Kosten -
ans andere Ende der Welt auf den bloßen Verdacht hin, dass der Herr Vater schon
zu Hause sein wird. Wenn er nun verreist war? Wenn er beschlossen hatte, ein
paar Wochen Urlaub zu machen? Am Vorabend meines Abflugs versuchte ich ihn
anzurufen, aber ich erreichte ihn nicht. Weder zu Hause noch auf seinem Handy.
Jetzt bekam ich es mit der Angst. Vielleicht war ihm etwas zugestoßen.
Vielleicht lag er tot auf dem Küchenfußboden seiner neuen Wohnung. Ich musste
losfliegen und nach ihm sehen.
    Als ich sechsunddreißig
Stunden später vor seiner Wohnung stand und auf den Klingelknopf drückte,
öffnete er natürlich sofort.
    »Was machst du denn hier?«, fragte er.
    »Ich will nach dir sehen. Warum gehst du nicht ans
Telefon?«
    »Hast du angerufen? Mit dem
Ding stimmt was nicht. Ich hab aus Versehen den Klingelton leise gestellt,
keine Ahnung, wie ich das geschafft habe. Und jetzt hör ich nicht, wenn jemand
anruft.«
    »Und dein Handy?«
    »Der Akku ist leer, und ich
kann das Ladegerät nirgends finden. Aber deshalb bist du doch nicht den ganzen
weiten Weg hierher geflogen, oder?«
    Ich stand noch auf der

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