Coe, Jonathan
meiner
Jugend stehe), und als ich dann noch wissen wollte, ob es mehr als einen Weg
gibt, hat sie gesagt, dass es mehrere gibt. Ich hab mir gedacht, dass Roger
vielleicht auch gemerkt haben könnte, was passiert war, und bin zur Sicherheit
noch eine Viertelstunde sitzen geblieben. Aber langsam wurde ich unruhig. Natürlich
hätte ich die Leute in meinem Teehaus bitten können, in dem anderen Teehaus
anzurufen und zu fragen, ob jemand mit Namen Roger dort wartete, aber auf die
Idee kam ich einfach nicht. Also stand ich auf und ging zu dem anderen Teehaus.
Tatsächlich brauchte ich zwanzig Minuten, weil ich nicht mehr sehr schnell zu
Fuß bin und mich ein paar Mal verlaufen habe. Als ich endlich ankam, war Roger
schon gegangen.«
»Ist er denn überhaupt
dagewesen?«
»O ja. Der Mann hinter dem
Tresen hat ihn mir beschrieben.«
»Aber du hast Roger seit
vierzig Jahren nicht gesehen.« Mein Vater lächelte. »Ich weiß. Aber das war
Roger. Manche Dinge vergisst man nicht.«
»Und was ist dann passiert?«
»Na ja, dann bin ich ...« Mein
Vater setzte zu einer neuen Geschichte an, aber er schien die Lust verloren zu
haben, sie zu erzählen. »Ach, Max«, sagte er. »Willst du das wirklich wissen?
Wie wär's noch mit einem Drink?«
Wir bestellten beim Kellner
zwei Amaretti, und bei der Gelegenheit stellte ich fest, dass die Chinesin und
ihre Tochter nicht mehr an ihrem Tisch saßen.
»Oh nein - sie sind gegangen«,
sagte ich, und mir sank das Herz. Die Geschichte meines Vaters hatte mich so in
Anspruch genommen, dass ich ihren Aufbruch gar nicht mitbekommen hatte.
»Wer ist gegangen?«
»Die Frau und ihre Tochter.
Die, mit denen ich reden wollte.«
»Du hast noch gar nicht mit
ihnen geredet?«
»Nein.«
»Ich dachte, du hättest schon
mit ihnen geredet.«
»Ich wollte gerade mit ihnen
reden, als du hier aufgekreuzt bist. Und jetzt sind sie weg.«
Ich war außer mir. Ich sprang
vom Tisch auf, um einen besseren Blick zu haben, und sah sie, in etwa hundert
Metern Entfernung, Hand in Hand auf den Circular Quay zugehen. Einen Moment
lang spielte ich mit dem Gedanken, ihnen nachzulaufen. Immerhin war ich extra
von London herübergeflogen, um mit dieser Frau zu reden. Und ich wäre wohl auch
von der Terrasse herunter und hinter ihnen her gesprintet, wenn mein Vater mir
nicht die Hand auf den Arm gelegt hätte.
»Setz dich«, sagte er. »Du
kannst morgen mit ihnen reden.«
»Wie, ich kann morgen mit
ihnen reden?«, erwiderte ich, jetzt richtig wütend auf ihn. »Sie sind weg,
verstehst du nicht? Sie sind weg, und ich habe absolut keine Möglichkeit, sie
ausfindig zu machen, es sei denn, ich komme in vier Wochen wieder her.«
»Du kannst morgen mit ihnen
reden«, wiederholte mein Vater. »Ich weiß, wo du sie morgen findest.«
Die zweite Runde Amaretti traf
ein. Auf Kosten des Hauses, sagte der Kellner. Wir dankten ihm, und mein Vater
fuhr fort: »Wenn du die Frau und das kleine Mädchen meinst, die an dem Tisch da
drüben gesessen haben ...« Ich nickte atemlos vor Angst, er könnte mich mit
irgendeiner falschen Hoffnung an der Nase herumführen. »Ich habe ihre
Unterhaltung mitgehört, als ich gekommen bin. Das Mädchen hat gefragt, ob sie
morgen schwimmen gehen darf, und ihre Mutter war einverstanden, falls das
Wetter schön ist, und die Kleine hat gesagt, sie möchte zum Fairlight Beach.«
»Fairlight Beach? Wo ist das?«
»Fairlight ist ein kleiner
Vorort Richtung Manly. Dort gibt es einen geschützten Strand mit einem
Swimmingpool, den sie in den Felsen gehauen haben. Wenn mich nicht alles
täuscht, kannst du sie morgen dort finden.«
»Falls das Wetter schön ist.«
»Falls das Wetter schön ist.«
»Was sagt der Wetterbericht?«
»Regen«, sagte mein Vater und
nippte an seinem Amaretto, »aber die liegen meist daneben.«
»Haben sie gesagt, wann sie
dorthin gehen wollen?«
»Nein«, antwortete mein Vater.
»Ich befürchte, du wirst ziemlich früh aufbrechen müssen, wenn du sicher sein
willst, sie zu treffen.«
Ich dachte über die
Möglichkeit nach. Mein Rückflug nach London ging gegen 22 Uhr, und für den Rest
des Tages hatte ich noch keine konkreten Pläne. Andererseits hatte der Gedanke,
stundenlang an einem Strand zu sitzen und auf die Chinesin und ihre Tochter zu
warten, etwas Entmutigendes. Aber blieb mir überhaupt eine Wahl? Mein
Bedürfnis, mit ihr zu reden, und wenn wir nur ein paar Worte wechselten, war
inzwischen verzehrend. Es war ein unerträglicher Gedanke, nach
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