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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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begegnet sind, scheint sie eine besondere Bedeutung zu haben. Ich glaube,
sie hat Sie von allen am besten verstanden.«
    »Ja, aber Poppy hat keinen
Zweifel daran gelassen, dass wir nicht mehr als Freunde sein können.«
    »Na sicher. Trotzdem ... Sie
hat Sie zum Abendessen in das Haus ihrer Mutter eingeladen - hatten Sie nicht
das Gefühl, dass das von Poppys Seite eine ganz besondere Geste war?«
    »Besonders? In welcher
Hinsicht?«
    »Na, es war doch nett von ihr.
Und ermutigend. Und auch sehr ... einfühlsam.«
    »Schon«, sagte ich ein
bisschen ungeduldig, »aber ich habe Ihnen ja erklärt, dass die Mutter nicht
mein Typ war, falls es das war, was sie bezwecken wollte. Ich fand sie nicht
attraktiv.«
    »Und Sie glauben, Poppy wollte
Sie mit ihrer Mutter verkuppeln?«
    »Natürlich. Hat sie doch
gesagt.«
    »Aber es war doch noch jemand
bei dem Essen dabei.«
    »Noch jemand?«
    »Noch jemand.«
    Wen meinte sie? »Nein, sonst
niemand«, sagte ich. »Da war noch ein junges Ehepaar - etwa zwanzig Jahre
jünger als ich - und ihr Onkel Clive. Sonst niemand.«
    Lian schaute mir fest in die
Augen. Ein Lächeln wollte sich über ihr Gesicht ausbreiten, aber sie
unterdrückte es, als sie meiner wachsenden Empörung gewahr wurde.
    »Tut mir leid«, sagte sie.
»Entschuldigen Sie die unpassende Bemerkung.«
    Hastig stopfte sie die
restlichen Sachen in ihren Picknickkorb und stand auf.
    »Ich muss jetzt meine Mädchen
einsammeln gehen.«
    Immer noch sprachlos vor
Schreck, erhob ich mich ebenfalls, und nahm - achtlos - ihre Hand, als sie sie
mir reichte.
    »Leben Sie wohl, Maxwell Sim«,
sagte sie. »Und seien Sie nachsichtig mit Menschen, die meinen, Sie besser zu
kennen als Sie sich selbst. Sie meinen es nur gut mit Ihnen.«
    Sie drehte sich um und ging
davon.
    Ich zögerte ein paar Sekunden,
dann lief ich ihr nach, holte sie ein. »Lian«, rief ich.
    Sie blieb stehen und blickte
zu mir zurück. »Ja.«
    Völlig außer mir, ohne
nachzudenken, was ich tat, packte ich sie, schlang meine Arme um sie und zog
sie fest an mich heran. Ich hielt sie so fest, dass sie sich nicht rühren
konnte, wahrscheinlich kaum Luft bekam. So hielt ich sie  ... ich weiß nicht
wie lange fest: bis mein eigener Körper unter einem einzigen, gewaltigen
Schluchzer erzitterte und ich meinen Mund auf ihr Haar drückte und hineinweinte
und hineinflüsterte: »Es ist schwer. Richtig schwer. Ich weiß, dass ich mich
damit abfinden muss, aber es ist das Schwerste, was ich ...«
    Ich spürte ihre Hand auf
meiner Brust, wie sie mich von sich wegdrückte, zuerst sanft, dann energischer,
und trat einen Schritt zurück, wischte mir die Augen und schaute zur Seite - beschämt,
gescheitert, zerstört.
    »Ich glaube, sie sind beinahe
angekommen, Maxwell«, sagte sie. »Sie sind beinahe angekommen.«
    Sie berührte meinen Arm, dann
drehte sie sich wieder um und ging davon, in Richtung des Pools, und rief nach
ihrer Tochter.
     
    Ich
blieb bis zum Sonnenuntergang am Strand.
    Es war interessant, dem
Wechsel der Farben am Himmel zuzusehen. Ich hatte das noch nie getan. Das Grau
wurde langsam zu Silber, als die Wolken zu zerreißen begannen und die letzten
Blicke der sterbenden Sonne durchließen, aber schon bald färbte sie ein eher
goldener Schimmer, bevor sie wegbrachen und noch weiter auseinander trieben,
als das Licht selbst weicher wurde und ausbleichte, die blassesten Rots und
Blaus ihre Streifen über den Himmel legten. Leute kamen und gingen vom und zum
Strand. Am Pool war niemand mehr. Ein langer Tag begab sich zur Ruhe.
    Lian fehlte mir bereits. Ein
schrecklicher Gedanke, sie nie wiederzusehen. Auch mein Vater fehlte mir. Ich
hätte schnellstens zu ihm zurückkehren sollen - mir blieben schließlich nur
noch wenige Stunden in Australien -, aber etwas hielt mich hier an diesem Ort.
Etwas lähmte mich. Es gab ja auch keine unmittelbare Eile, mit ihm zu reden,
jetzt, wo ich wusste, dass er nach England zurückkehren würde. Bald würden wir
sehr viel Zeit füreinander, sehr viel Freude miteinander haben.
    Ich konnte nicht ewig dort
sitzen bleiben. Wenn ich nicht bald aufbrach, verpasste ich noch mein Flugzeug.
Aber ich wusste, dass es vorher noch etwas zu tun gab.
    Ich musste mit jemandem reden.
Ich musste ganz dringend mit jemandem reden - noch dringender als damals in den
Cairngorms, als ich mit leerem Handy-Akku betrunken durch einen wütenden
Schneesturm kurvte.
    Heute war mein Akku frisch
aufgeladen.
    Also, was hielt mich zurück?
    Ich fühlte mich wie

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