Coe, Jonathan
Held,
die bestimmende Figur dieser Zeit in meiner Erinnerung weder John Lennon noch
Che Guevara war, sondern ein konservativer, altmodischer,
fünfundsechzigjähriger Vegetarier mit dem Aussehen und Auftreten eines
onkelhaften Lateinlehrers? Hättest du auch nur die geringste Ahnung, von wem
die Rede ist? Hat sein Name heute überhaupt noch irgendeine Bedeutung?
Die Rede ist von Sir Francis
Chichester.
Wahrscheinlich hast du keine
Ahnung, wer Sir Francis Chichester war. Ich will es dir erzählen. Er war ein
Segler, ein Seefahrer - einer der besten, die England je hervorgebracht hat.
Und 1968 war er eine Berühmtheit, einer der populärsten Männer im ganzen Land,
in aller Munde. So berühmt wie heute David Beckham oder Robbie Williams? Ich
denke schon. Und seine Leistung, so zwecklos sie der jüngeren Generation von
heute auch erscheinen mag, ist in den Augen vieler Menschen deutlich höher
anzusiedeln als Fußball spielen oder Popsongs schreiben. Er war berühmt, weil
er mit seiner Jacht Gypsy Moth ganz allein einmal um die Welt gesegelt ist. Er
bewältigte diese Reise in 226Tagen, und was das Unglaublichste an der
Geschichte ist - er legte auf der ganzen Reise nur einen einzigen Zwischenstopp
ein, in Australien. Es war ein seefahrerisches Bravourstück, erbracht von
einem der unwahrscheinlichsten Helden.
Ich hatte das enorme Glück, am
Meer aufzuwachsen. Soviel ich weiß, bist du einmal in der Stadt gewesen, in der
deine Mutter und ich groß geworden sind. Shaldon heißt sie und liegt in Devon.
Wir haben in einem großen georgianischen Haus nahe am Wasser gewohnt. Shaldon
selbst liegt allerdings an einem etwas unscheinbaren Meeresarm; wenn man an
die eigentliche Meeresküste wollte, musste man einen knappen Kilometer die
Straße hinauf nach Teignmouth gehen. Dort fand man alles, was zu einem richtigen
Seebad gehörte: eine Mole, Strände, Vergnügungsarkaden, Minigolfplätze,
Dutzende von Pensionen und natürlich einen lebendigen Jachthafen, wo Seeleute
und Freizeitsegler aller Art zusammenkamen und die Luft vom Raunen der in der
Dünung schwankenden Masten und Takelagen erfüllt war. Schon in jungen Jahren -
seit ich zurückdenken kann - hatten Vater und Mutter mich mit an den Hafen
genommen, wo wir das Kommen und Gehen, die endlosen Gezeiten des maritimen
Lebens beobachten konnten. Wir sind selber nie gesegelt, aber wir kannten viele
Segler: Mit acht Jahren hatte ich bereits an mehreren bescheidenen Ozeantörns
teilgenommen, an Bord von Segelbooten, die Freunden meiner Eltern gehörten,
und eine tiefe Schuljungenliebe zu allem gefasst, was mit der Seefahrt zu tun
hatte.
Es ist also kein Wunder, dass
Francis Chichester und seine Heldentat einen so großen Raum in meinem Denken
einnahmen. Auch wenn wir im Mai 1967 die Pilgerfahrt entlang der Küste nach
Plymouth nicht gemacht haben, um ihn im Empfang zu nehmen, kann ich mich noch
sehr lebhaft an die Fernsehübertragung erinnern, die ich - wie Millionen
andere - live in der BBC verfolgt habe. Wenn ich mich recht erinnere, war das
Programm extra für diesen Anlass geändert worden. Der Hafen von Plymouth und
seine Umgebung waren überschwemmt von Hunderttausenden von Gratulanten. Sie
jubelten und applaudierten und schwenkten ihre Union Jacks, als die Gypsy Moth,
begleitet von den Booten und Barkassen der Journalisten und Kamerateams, in den
Hafen glitt. Chichester selbst stand winkend an Deck, gesund, sonnengebräunt
und gut gelaunt - ganz und gar nicht wie jemand, der die letzten siebeneinhalb
Monate in extremer Isolation verbracht hatte. Bei diesem Ereignis schwellte ein
unschuldiger patriotischer Stolz mir die Brust - ein Gefühl, das ich später
nicht mehr oft erleben durfte. Ich legte ein Sammelalbum an, in das ich alle
Artikel über Chichesters Reise und andere Geschichten von Segelschiffen klebte,
die ich in den Zeitungen bei uns zu Hause finden konnte. Ich meine mich zu
erinnern, dass meine Eltern an Wochentagen die Daily Mail und an Sonntagen - wie etwa
die Hälfte aller Landsleute, so schien es damals - die Sunday Times gelesen haben. Und in der Sunday Times vom 17. März 1968 fand ich die
aufregende Ankündigung:
FÜNFTAUSEND PFUND
Einen Preis von fünftausend
Pfund setzt die Sunday Times für denjenigen Segler aus, der in der Zeit zwischen
dem 1. Juni und dem 31. Oktober 1968 von einem englischen Hafen aus zu einer
einhändigen Weltumseglung aufbricht, in ihrem Verlauf die drei Kaps (Gute
Hoffnung, Leeuwin und Hoorn) umsegelt und ohne
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