Coe, Jonathan
heraus; sie
wusste Bescheid. Sie war immerhin der erste Mensch (abgesehen von meinen Arbeitgebern,
meinem Hausarzt und meiner Arbeitsschutz-Beauftragten - die erste Freundin,
will ich damit sagen), dem gegenüber ich den Mut gefunden hatte, dieses
schmachvolle Geheimnis zu offenbaren. Und meine Befürchtung, dass sie jetzt von
mir wegrücken, sich in argwöhnisches Schweigen zurückziehen, womöglich die
Stewardess bitten würde, ihr einen anderen Platz zu geben, sah sich nicht
bestätigt. Es schien an ihrer Einstellung mir gegenüber nichts geändert zu
haben. Dafür war ich sehr dankbar, und augenblicklich schien eine Art Vertrautheit
entstanden zu sein - eine gelassene, angenehme Form von Vertrautheit -, und das
hieß, dass unser Gespräch, von dem ich befürchtet hatte, es könnte nervös und
gezwungen verlaufen, jetzt zu einem völlig natürlichen Rhythmus zu finden
schien.
Um ehrlich zu sein, redeten
wir in den folgenden Stunden nicht annähernd so viel miteinander, wie ich
angenommen hatte. Lange Zeit saßen wir in einer Art kameradschaftlichem
Schweigen da, wie man es bei einem alten, seit dreißig Jahren verheirateten
Ehepaar erwarten würde - dem Paar in dem Restaurant in Sydney, zum Beispiel,
die sich nebeneinander gesetzt hatten, um gemeinsam die Aussicht auf den Hafen
zu genießen, statt zu reden. Bei uns sah das nach ein paar Flugstunden (es
dürfte gegen zwei Uhr nachts nach Singapur-Zeit gewesen sein) so aus: Ich
zappte mich durch die verschiedenen Filme auf der Konsole vor mir, gab hin und
wieder Kommentare dazu ab, ohne mich wirklich auf etwas konzentrieren zu
können, während Poppy, nachdem sie ein paar Minuten lang einen kurzen Bericht
in ihren Laptop getippt hatte, diesen jetzt dazu nutzte, sich mit der hoch
komplizierten, dreidimensionalen Version eines Sudoku die Zeit zu vertreiben.
Aber viel wichtiger war, dass
wir die untätigen Momente zwischen solchen Aktivitäten zu Gesprächen nutzten.
»Wie ist das mit dem Jetlag«,
fragte ich sie einmal.
»Hmm?«
»Bei Ihrem Job. Ihre innere
Uhr muss doch völlig durcheinander sein. Macht das manchmal Probleme?«
Poppy zuckte die Achseln.
»Anscheinend nicht. Zu Hause wache ich manchmal ein bisschen zu früh auf.
Manchmal auch zu spät. Ist aber nicht weiter schlimm.«
Ich seufzte neidisch. »Wie
schön muss die Jugend sein.«
»Sie sitzen ja auch noch nicht
im Rollstuhl, Großväterchen.«
»Na gut, aber ein, zwei Tage
werde ich schon brauchen, um mich von dem Flug zu erholen. Und diesmal muss es
möglichst schnell gehen, weil ich diese Woche noch eine Entscheidung treffen
muss.«
»Ach ja?«
»Ja. Ich bin meinem
Arbeitsplatz jetzt sechs Monate ferngeblieben. Ich muss zu der Dame vom
Arbeitsschutz gehen und ihr mitteilen, ob ich zurückkommen will oder nicht. Und
selbst wenn ich Ja sage, könnte sie entscheiden, dass ich dazu nicht gesund
genug bin, und dann hätten sie einen Grund, mich ...« - es dauerte einen
Moment, bis der Euphemismus mir eingefallen war - » ...freizustellen. Gut
möglich, dass sie sogar darauf hoffen.«
»Wollen Sie?«
»Ob ich will? Was?«
»Zurückgehen?«
Ich dachte ein paar
Augenblicke darüber nach, aber die Frage war zu schwierig, um sie gleich zu
beantworten. Stattdessen rasten meine Gedanken voraus zu alldem, was mich
erwartete, wenn ich nach Hause kam: trübes, kaltes Februarwetter, eine leere
Wohnung, ein Haufen Postwurfsendungen hinter der Wohnungstür. O ja, es würde
schlimm werden. In dem Moment glaubte ich nicht einmal, die einsame Heimkehr
ertragen zu können, geschweige denn die Entscheidung, die dann folgen musste.
»Wissen Sie, ich habe immer
noch diesen Wunschtraum«, sagte ich schließlich. »Den Wunschtraum, dass ich
nach Hause komme und sie dort auf mich wartet. Caroline. Sie hat noch einen
Schlüssel, es wäre also möglich. Ich schließe die Tür auf und weiß sofort, dass
sie wieder da ist. Ich sehe sie nicht gleich, aber ich weiß, es ist jemand da -
das Radio läuft, es riecht nach frischem Kaffee. Die Wohnung ist warm und
aufgeräumt. Und dann sehe ich sie, sie sitzt auf dem Sofa, liest ein Buch,
wartet auf mich ...« Ich wandte mich wieder Poppy zu. »Aber so wird es wohl
nicht sein, oder?«
Sie sagte nur: »Also, Sie
haben ja sicher einen Therapeuten konsultiert, aber gibt es sonst noch
jemanden, mit dem Sie über solche Dinge reden können? Vielleicht in Ihrer
Familie?«
Ich schüttelte den Kopf. »Mum
ist tot. Sie ist jung gestorben - vor über zwanzig Jahren. Und Dad ist
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